Sonntag, 6. Februar 2005

Mead, George Herbert 1863-1931

Mead studierte u.a. in Leipzig und Berlin und war von 1894 bis zu seinem Tode Professor für Philosophie und Sozialpsychologie an der Universität Chicago. Mead zählt zu den amerikanischen Pragmatisten und Vertretern der Schule von Chicago. Meads Schüler Charles W. Morris veröffentlichte 1934 auf der Basis von Vorlesungsmitschriften von Studierenden das später viel beachtete Werk: "Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist". Mead selbst hat seine Theorie nie systematisch niedergelegt. Die Entwicklung des Symbolischen Interaktionismus durch seinen Schüler Herbert Blumer geht auf Meads Arbeiten zur Theorie der symbolvermittelten Kommunikation zurück, die Mead in jener Vorlesung über Sozialpsychologie, die er von 1900 bis 1930 in Chicago hielt, ausgearbeitet hat.

In "Mind, Self and Society" hat sich Mead in erster Linie mit zwei Fragen auseinandergesetzt:
Wie entsteht Bewusstsein im Laufe der Phylogenese (stammesgeschichtlichen Entwicklung)?
Wie entsteht Identität im Laufe der Ontogenese (individualbiographischen Entwicklung)?
In Abgrenzung zum deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel), den Mead "solipsistischen Spuk" schimpft, versteht Mead - inspiriert von der Evolutionstheorie Darwins - das Bewusstsein des Menschen als evolutionäres Produkt der Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt und nicht als Gabe, die dem Menschen etwa in die Wiege gelegt wäre und in Aprioris der Erkenntnis zu beschreiben wäre. Dabei setzt man, so Mead, das zu Erklärende bereits voraus Gegen den Idealismus wandte sich auch die moderne Psychologie: behavioristische Psychologie (John B. Watson), physiologische Psychologie (Wilhelm Wundt), funktionalistische Psychologie (bwz. Pragmatismus, John Dewey), frühe Sozialpsychologie (McDougall) und Psychoanalyse (Sigmund Freud).
All diese Theorien haben Meads Schaffen geprägt, aber er konnte bei der Formulierung seiner anthropologischen Theorie zur Genese von Bewusstsein ganz besonders an Dewey - ein guter Freund Meads - anknüpfen und hat sich wiederholt sehr ausdrücklich von Watson abgegrenzt. Wie Dewey versteht er Bewusstsein als ein Produkt der Kooperation von Individuen, das der Behaviorismus, der jegliches Handeln in unverbundene Reiz-Reaktions-Phasen zerlegt, gar nicht fassen kann. Handeln versteht der Behaviorismus in den Begriffen Reiz, Reaktion und bedingte Konditionierung (später erweitert durch Skinner um die operante Konditionierung). Der Sozialbehaviorismus Meads dagegen sieht die Entwicklung von Bewusstsein einhergehen mit der Entwicklung signifikanter Symbole (Sprache).
Symbole entstehen aus der Optimierung der Kooperation von Subjekten: Der Mensch realisiert, dass sein Verhalten der Reiz für das Verhalten anderer ist. Indem er sein Verhalten kontrolliert, kann er das der anderen kontrollieren, so dass sich Kooperationsprozesse optimieren lassen. Diese Optimierung ist nur möglich über die Sprache, denn nur die stimmliche Geste können wir ebenso wahrnehmen wie unser Gegenüber. Daher können wir mit unserer Geste die Reaktion des Gegenübers verbinden, der Sinn unserer Geste liegt in der Reaktion des Anderen - unsere Geste ist damit eine signifikante Geste, d.h.: ein (signifikantes) Symbol. Über Symbole können wir unser Verhalten kontrollieren. Damit entsteht auch die Möglichkeit zum Selbstbewusstsein: Indem man sein Verhalten aus der Perspektive anderer kontrollieren kann, ist man aus dem Status des nur handelnden Subjekts entlassen. Man kann sich selbst zum Objekt werden aus der Perspektive der anderen mittels der Sprache, man kann sich in die Lage der Anderen versetzen, um sein Verhalten zu beurteilen. Dies ist notwendig für das Selbstbewusstsein, weil der Mensch sich als Subjekt seines Handelns nicht erfahren kann: Das Erleben des eigenen Erlebens erlebt man nicht aus der Perspektive des gerade Erlebenden.
Mead nennt diese Phase der Reflexion das ME. Im ME sieht man sich aus der Perspektive des (generalisierten) Anderen. Das Handeln ist durch die eigene Reaktion auf das ME geprägt, durch die verinnerlichten Erwartungen der Anderen. Jene Phase des Handelns, der Reaktion des Subjekts auf die Hereinnahme der Haltungen des (generalisierten) Anderen nennt Mead I. I und ME bilden die Einheit der Differenz des SELF (Selbst, Identität).
Die Identität bildet sich individualbiographisch durch das Durchleben des Kindes zweier Spielphasen: PLAY und GAME. In diesen lernt das Kind die Haltung anderer zu übernehmen, sein Verhalten nach deren Erwartungen abzustimmen. Zunächst im freien und naiven Spiel mit sich selbst (PLAY), dann im organisierten Wettkampf mit vielen Anderen (GAME). Das Kind übt eine Selbstkontrolle auf sich aus und unterliegt damit der sozialen Kontrolle der Gemeinschaften, denen es angehört und nach denen sich die soziale Struktur der Identität (ME) ausgebildet hat. Die unterschiedlichen Ansprüche verschiedener Gruppen zu koordinieren, das heißt verschiedene verinnerlichte Gruppenhaltungen zu synthetisieren, also die Einheit der Differenz von MEs herzustellen, ist eine der Aufgaben der Identität. Aus den daraus entstehenden moralischen Konflikten entwickelt Mead seine Theorie der Ethik und des Sozialen Wandels, die jedoch weit weniger beachtet wurden als seine Theorie der symbolvermittelten Kommunikation und der Entstehung von Identität und Bewusstsein.

Werke
Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1968
Sozialpsychologie. Luchterhand-Verlag, Neuwied 1969
Gesammelte Aufsätze. 2 Bände. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1980 - 1983

Literatur
Harald Wenzel: George Herbert Mead zur Einführung. Junius-Verlag, Hamburg 1990. ISBN 3-88506-855-9
Hans Joas: Praktische Intersubjektivität: die Entwicklung des Werkes von George Herbert Mead. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1989. ISBN 3-518-28365-0

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