Sonntag, 19. Dezember 2004

Theodor W. Adorno 1903-1969

Theodor Ludwig Wiesengrund-Adorno war ein deutscher Soziologe, Philosoph, Musikwissenschaftler und Komponist.

Leben und Werk
Theodor W. Adorno war bereits als junger Musikkritiker und noch als ordinierter Soziologe vor allem ein philosophischer Kopf. Als Komponist vermochte er aus dem Schatten seines Lehrers Alban Berg nicht herauszutreten. Die Titulierung Sozialphilosoph hebt im Falle Adornos auf den gesellschaftskritischen Schwerpunkt seines Philosophierens ab, dem eine nach 1945 intellektuell führende Rolle im Frankfurter Institut für Sozialforschung entsprach.
Die vorstehende Kurzcharakteristik hat einen Beleg in folgender Selbstbeschreibung Adornos (1965 gegenüber Max Horkheimer). Danach sei er,nach Herkunft und früher Entwicklung, Künstler, Musiker, doch beseelt von einem Drang zur Rechenschaft über die Kunst und ihre Möglichkeit heute, in dem auch Objektives sich anmelden wollte, die Ahnung von der Unzulänglichkeit naiv ästhetischen Verhaltens angesichts der gesellschaftlichen Tendenz.
Siehe auch: Portal Philosophie, Frankfurter Schule, Kritische Theorie.
Frühe Frankfurter Jahre (1903-21)
Die Eltern des Einzelkinds Theodor ("Teddie") waren der Weingroßhändler Oscar Alexander Wiesengrund (1870-1946, jüdischer Abstammung, zum Protestantismus übergetreten) und die Sängerin (und Katholikin) Maria Barbara, geb. Calvelli-Adorno (1865-1952) - daher der später gewählte Hauptname Adorno ("Wiesengrund" mit "W." abgekürzt). Im Elternhaus wohnte auch deren ebenso musikalische Schwester Agathe. Vor allem am vierhändigen Klavierspiel beteiligte sich der Junge von klein auf mit Leidenschaft. Ein Übriges zum Glück der Kindheit tat die alljährliche "Sommerfrische" der Familie in Amorbach (Odenwald). Am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium wusste das Wunderkind zu glänzen: Bereits mit 17 Jahren machte er das Abitur als "bester von allen". Neben der Schule hatte er (bei Bernhard Sekles) Privatunterricht in Komposition genommen (1923 Aufführung eines eigenen Streichquartetts) und sich an vielen Samstagnachmittagen gemeinsam mit dem 14 Jahre älteren Freund Siegfried Kracauer in eine wissenssoziologische Lektüre von Kants "Kritik der reinen Vernunft" vertieft. "Nicht im leisesten übertreibe ich, wenn ich sage, dass ich dieser Lektüre mehr verdanke als meinen akademischen Lehrern." An der ebenfalls heimischen (später nach Goethe benannten) Universität (http://www.innovationsreport.de/html/profile/profil-366.html) belegte er ab 1921 Philosophie, Musikwissenschaft, Psychologie und Soziologie. Das Studium absolvierte der Frühreife zügig: Ende 1924 schloss er es mit einer Dissertation über Edmund Husserl "summa cum laude" ab. Inzwischen hatte er seine wichtigsten intellektuellen Weggefährten kennengelernt: Max Horkheimer und Walter Benjamin.
Wiener Intermezzo (1925-26)
Während der Frankfurter Studienzeit hatte Adorno sich mit zahlreichen Artikeln als Musikkritiker versucht. Hierin sah er seine künftige Profession. Dieses Ziel vor Augen, nutzte er die Beziehung zu Alban Berg, mit dessen Oper "Wozzeck" er 1924 bekannt geworden war, zu einem musikalischen "Aufbaustudium" an dessen Wirkungsstätte (ab Januar 1925). Auch zu den beiden anderen Größen der Wiener Schule nahm er Tuchfühlung auf: zu Anton von Webern und Arnold Schönberg. Vor allem Schönbergs revolutionäre Atonalität regte den 22-Jährigen zu philosophischen Betrachtungen über die "Neue Musik" an, die bei deren Protagonisten allerdings nicht verfingen. Diese Enttäuschung brachte es mit sich, dass er nach und nach seine Ambitionen in Sachen Musikkritik zugunsten einer Laufbahn als akademischer Lehrer und Sozialforscher zurückschraubte. (Von 1928 bis 1931 war er immerhin noch leitender Redakteur der Avantgarde-Zeitschrift "Anbruch".) Ohnehin war für seine Konzert- und Opernbesprechungen von früh an der philosophische Anspruch charakteristisch. - Außerdem stand die Wiener Zeit unter dem Eindruck von Karl Kraus, dessen Vorlesungen er zusammen mit Alban Berg besuchte, und von Georg Lukács, dessen "Theorie des Romans" bereits den Abiturienten begeistert hatte.
Mittlere Frankfurter Jahre (1926-33)
Zurück aus Wien, blieb Adorno zunächst ein weiterer Misserfolg nicht erspart: Eine umfangreiche philosophisch-psychologische Abhandlung, gegen die der Doktorvater Hans Cornelius und auch dessen Assistent Max Horkheimer Bedenken hatten, zog er daraufhin Anfang 1928 als Habilitationsschrift zurück. Erst drei Jahre später sollte er die (1933 dann wieder entzogene) "Venia legendi" mit dem Manuskript "Kierkegaard - Konstruktion des Ästhetischen" erhalten, das er bei Paul Tillich einreichte. Seine Antrittsvorlesung als Privatdozent (Mai 1931) handelte von der "Aktualität der Philosophie"; sie galt ihm zeitlebens als programmatisch. Er stellte darin erstmals ausdrücklich den Begriff der Totalität in Frage, was auf seine berühmt gewordene -gegen Hegel gewendete- Formel "Das Ganze ist das Unwahre" (aus den "Minima Moralia") vorausdeutete. Zu seinen ersten Lehrveranstaltungen gehörte dann ein Seminar über Benjamins Abhandlung "Ursprung des deutschen Trauerspiels". 1932 war der Aufsatz "Zur gesellschaftlichen Lage der Musik" sein Beitrag zum ersten Heft der "Zeitschrift für Sozialforschung", die Horkheimer herausgab; in dessen "Institut" sollte er jedoch erst 1938 eintreten.
Pendler zwischen Berlin und Oxford (1934-37)
Seit den späten Zwanziger Jahren schon hatte Adorno während mehrerer Berlin-Aufenthalte außer zu Benjamin engeren Kontakt zu Ernst Bloch gepflegt, dessen erstes Hauptwerk "Geist der Utopie" er bereits 1921 kennengelernt hatte, und später heftig kritisierte. Noch anziehender war ihm die deutsche Hauptstadt wegen der promovierten Chemikerin Margarete ("Gretel") Karplus (1902-1993) geworden, die er 1937 in London heiraten sollte. 1934 emigrierte er nach England, um sich in Oxford nochmals zu habilitieren [und wohl vor allem um vor den Nazis aus Deutschland zu fliehen...]. Dazu kam es zwar nicht mehr, aber als Postgraduierter betrieb er erstmals ein eingehendes Studium der Philosophie Hegels. Außerdem ließ er es sich nicht nehmen, die Sommerferien Jahr für Jahr bei seiner Verlobten in Deutschland zu verbringen. 1936 erschien in der "Zeitschrift" einer seiner umstrittensten Arbeiten überhaupt: "Über Jazz". Es handelte sich dabei jedoch weniger um eine Auseinandersetzung mit dieser besonderen Musikrichtung als um eine erste grundsätzliche Polemik gegen die gerade aufkommende Unterhaltungs- und Kulturindustrie. Der in dieser Zeit intensive briefliche Kontakt mit dem im amerikanischen Exil lebenden Horkheimer mündete in dessen Angebot einer existenzsichernden wissenschaftlichen Tätigkeit jenseits des Atlantiks.
Emigrant in den USA (1938-49)
Nach einem ersten New-York-Besuch 1937 entschloss er sich zur Übersiedlung. In Brüssel nahm er Abschied von den Eltern, die 1939 nachkamen, und in San Remo von Walter Benjamin, der in Europa zurückblieb, mit dem der Gedankenaustausch anschließend jedoch in brieflicher Form kulminierte. Kurz nach der Ankunft in New York nahm ihn Horkheimers "Institut" als offizielles Mitglied auf. Die erste Arbeit bestand in der Leitung eines Hörfunk-Forschungsunternehmens (Radio Research Project) zusammen mit dem österreichischen Soziologen Paul Lazarsfeld. Schon bald verlagerte sich die Aufmerksamkeit jedoch auf die direkte Zusammenarbeit mit Horkheimer, die 1941 mit dem gemeinsamen Umzug nach Los Angeles zum Ausdruck kam und 1944 zur ersten Fassung der Essaysammlung "Dialektik der Aufklärung" führte, des Hauptwerks der Kritischen Theorie. Sozusagen den gleichzeitigen Holocaust vor Augen, beginnt die Schrift mit den Worten:
Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.
Ab 1945 betätigte er sich nicht mehr als Komponist. Damit entsprach er auf eigene Weise seinem so harten wie berühmten Wort: "Nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch." In Sachen Musik erhielt er indessen den ehrenvollen Auftrag von Thomas Mann, ihn bei seinem Roman über "das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn" ("Doktor Faustus") fachlich zu beraten. Außerdem arbeitete er in den 40er Jahren an seiner "Philosophie der neuen Musik" und zusammen mit Hanns Eisler an dessen "Komposition für den Film". Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich die von mehreren Forschungsinstituten durchgeführte Untersuchung des -vor allem antisemitischen- Vorurteils ("Studies in Prejudice"), die unter anderem durch indirekte Fragen (F-Skala) an die Versuchspersonen deren "autoritären Charakter" aufdeckte. Adornos Beitrag bestand in "qualitativen Interpretationen".
Späte Frankfurter Jahre (1949-69)
Nach dem Krieg zögerte der von Heimweh Geplagte die Rückkehr nach Deutschland nicht allzu lange hinaus. In Frankfurt bot sich ihm dank Horkheimers Einfluss die Möglichkeit einer außerplanmäßigen Professur, die er 1949/50 wahrnahm und womit sich nach langer Unterbrechung eine akademische Laufbahn fortsetzte, die 1956/57 in der Stellung als zweifacher Ordinarius (Philosophie und Soziologie) gipfelte. Im der Universität angeschlossenen Institut wurde Adornos Führungsposition immer eindeutiger, da sich der acht Jahre ältere Horkheimer mehr und mehr zurückzog und dem Jüngeren schließlich 1958/59 das alleinige Direktorat überließ. Zu einem höheren Bekanntheitsgrad im Nachkriegsdeutschland trug zunächst die Aphorismensammlung "Minima Moralia" bei, die 1951 in dem soeben gegründeten Verlag von Peter Suhrkamp veröffentlicht wurde und die "traurige Wissenschaft" ausführte, die unter dem Eindruck der "drei Höllen: Faschismus, Stalinismus und Kulturindustrie" (Rüdiger Safranski) keine Alternative mehr zuzulassen schien: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Trotz dieses pessimistischen Befunds war das Pensum enorm, das Adorno sich auflud und zu einer herausragenden intellektuellen Gründergestalt der westdeutschen Republik werden ließ, nachdem 1953 ein letzter Versuch, ihn längerfristig an Forschungsvorhaben in den USA zu binden, gescheitert war.
Letzter Akt (1967-69)
1966 kam es gegen die Große Koalition von CDU/CSU und SPD zur Bildung einer "Außerparlamentarischen Opposition (APO)", die vor allem gegen die von der neuen Regierung geplanten Notstandsgesetze zu Felde zog. Auch Adorno gehörte zu den Kritikern dieser Politik (1968 Teilnahme an Veranstaltung des Aktionskomitees "Demokratie im Notstand"). Als am 2. Juni 1967 bei einer Berliner Demonstration gegen den Schah-Besuch der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde, begann sich die linksgerichtete APO zu radikalisieren, und vor allem an den Universitäten probte man den Aufstand. Es waren nicht zuletzt Schüler Adornos, die den Geist der Revolte repräsentierten und derart "praktische" Konsequenzen aus der "Kritischen Theorie" zogen. Die Köpfe der Frankfurter Schule waren jedoch bei aller Sympathie nicht bereit, den Aktivismus zu unterstützen. So wurde gerade auch Adorno zur Zielscheibe studentischer Aktionen. Umgekehrt sah er sich Vorwürfen von rechts ausgesetzt, zu den geistigen Urhebern linker Gewalt zu gehören. 1969 nahmen die Störungen im Hörsaal in einem Maße zu, dass Adorno seine Vorlesung einstellte. Als im Januar einige Studenten aufdringlich wurden und versuchten, in sein Institut einzudringen, um über die politische Situation zu diskutieren, rief er, der er sich immer gegen den Polizei- und Überwachungsstaat gestellt hatte, schlicht die Polizei, nachdem eine Studentin ihre nackten Brüste gezeigt hatte!
Über die letzten Tage des "mit dem Rücken zur Wand" Stehenden heißt es in der 2003 erschienenen Adorno-Biographie von (Stefan Müller-Doohm).
Den Zustand, in dem sich Adorno im Frühsommer 1969 befand, bezeichnete er selbst als desolat. Ohnehin schon extrem erschöpft, tat er mehr, als er verkraften konnte. Zu der üblichen "totalen Überarbeitung" kam die nicht enden wollende Qual sich im Kreise drehender Diskussionen und Auseinandersetzungen mit den radikalen Studenten, die sich ihn, die Koryphäe der Kritischen Theorie, nicht zuletzt aus Gründen der Medienwirksamkeit ausgesucht hatten. Adorno musste nicht nur Feindseligkeit und offenen Hass über sich ergehen lassen, wobei er überzeugt war, dass sie sich gegen ihn als Theoretiker richteten. Vielmehr verfolgte ihn auch der Alptraum, dass die politische Gesamtsituation von heute und morgen in Totalitarismus umschlagen könne. In seinem letzten, zunächst handschriftlich verfassten Brief, den er am 26. Juli an [Herbert] Marcuse schrieb, dessen maschinenschriftliche Fassung diesen jedoch erst am 6. August erreichte, sprach er von sich selbst als "einem schwer ramponierten Teddie".
In dieser desolaten Verfassung fuhren Adorno und seine Frau in die Schweiz, wo er bei ausgedehnten Spaziergängen stets den Ausgleich zu finden pflegte, dessen er nun mehr denn je bedurfte. Am Dienstag, dem 22. Juli, fuhr das Ehepaar in Richtung Zermatt, um im Hotel "Bristol" die Ferienwochen zu verbringen. Wenige Tage nach der Ankunft im bekannten, 1600 Meter hoch gelegenen Schweizer Urlaubsort im Kanton Wallis am Fuße des Matterhorn unternahm Adorno am 5. August mit Gretel, trotz eindringlicher Ermahnungen seines Hausarztes und Herzspezialisten Doktor Sprado, alle körperlichen Anstrengungen zu vermeiden, einen Ausflug auf einen 3000 Meter hoch gelegenen Gipfel, der mit der Seilbahn erreichbar war. Auf der Höhe setzten erstmals Herzbeschwerden ein, die ihn zur Rückkehr in den Ort zwangen. Noch am selben Tag fuhren sie dann in die talwärts gelegene, etwa 30 km entfernte Stadt Visp. Adornos Bergstiefel hatten ein Loch, das er reparieren lassen wollte. Im Schuhladen stellten sich erneut Herzbeschwerden ein. Aus diesem Grund wurde er zur Sicherheit in die Klinik der Kleinstadt gebracht. Gretel Adorno fuhr gegen Abend zurück ins Hotel. Als sie am nächsten Tag, am 6. August, ihren Mann im Krankenhaus St. Maria mit Lesestoff versorgen wollte, musste sie miterleben, wie er am Vormittag gegen 11.20 Uhr plötzlich einem Herzinfarkt erlag. Er wäre am 11. September 66 Jahre alt geworden.

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