Niklas Luhmann (* 8. Dezember 1927 in Lüneburg; † 6. November 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld) war Soziologe. Als einer der Begründer der soziologischen Systemtheorie machte er sich auch in der Philosophie einen Namen.
Er studierte von 1946 bis 1949 Rechtswissenschaft. 1952 und 53 begann er mit dem Aufbau seiner "Zettelkästen" und war als Verwaltungsfachmann tätig. 1960 heiratete er Ursula von Walter. 1960/61 ließ er sich zum Studium an der Harvard-Universität beurlauben. Nach Forschungstätigkeit zu Beginn der 1960er Jahre an der "Sozialforschungsstelle der Universität Münster" in Dortmund promovierte und habilitierte er sich innerhalb eines Jahres 1966 im Fach Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 1968 lehrte er an der Universität Bielefeld Soziologie.
Kurze Zusammenfassung
Die Luhmannsche Systemtheorie (in Abgrenzung zur allgemeinen Systemtheorie von Ludwig von Bertalanffy u. a. sowie zur Theorie sozialer Systeme von Talcott Parsons) gilt derzeit als eine der wohl erfolgreichsten und populärsten Theoriemodelle im deutschen Sprachraum, nicht nur in der Soziologie, sondern auch in so diversen Feldern wie der Psychologie, der Theorie des Management oder der Literaturtheorie.
Luhmann entlehnt Grundbegriffe der Systemtheorie von Humberto Maturana. Ein System definiert sich danach selbst, indem es einen Unterschied zu seiner Umwelt markiert. Luhmann spricht mit Maturana von autopoietischen (griech.: selbsterzeugend), in operativer Hinsicht geschlossenen Systemen. Im Gegensatz zu Maturana, der den Begriff der Autopoiesis strikt auf Organismen beschränkt, weitet Luhmann ihn auf sinnkonstituierende Zusammenhänge aus.
Hieraus ergeben sich erkenntnistheoretische Konsequenzen, die Maturana als Vertreter des Radikalen Konstruktivismus als erster formuliert hat und die auch Luhmann i.W. teilt.
Indessen hat umgekehrt Maturana der Bezugnahme Luhmanns auf sein Werk ausdrücklich widersprochen. Nicht zuletzt unterscheiden sich Maturana und Luhmann durch einen grundlegenden philosophischen Unterschied: während Luhmann einen das Subjekt leugnenden, biozentrischen Ansatz vertritt, geht der Systembiologe (!) Maturana von einer logozentrischen Sicht aus. Maturana scheidet daher als Kronzeuge für die Abkehr von der Anthropozentrik durch Luhmann dezidiert aus. Ideengeschichtlich steht Luhmann eher in einer Reihe mit dem bisher noch um wissenschaftliche Anerkennung ringenden Logiker Spencer Brown. Dessen Hauptwerk, Laws of Form (1969), ist nach der Einschätzung seines Autors, das "intelligenteste Buch des Universums" (Vorwort).
Letztelemente sozialer Systeme, postuliert Luhmann, sind nicht etwa handelnde Menschen, sondern Kommunikationen. Ein soziales System steuert sich selbst, in dem es ständig Kommunikationen produziert und anschlussfähig hält. Psychische Systeme (Bewusstsein) können nicht kommunizieren, sie denken; nur soziale Systeme (Interaktion, Organisation, Gesellschaft) können sich kommunikativ anregen.
Luhmann radikalisiert den Kommunikationsbegriff und definiert ihn als dreifache Selektion aus "Information, Mitteilung und Verstehen". Sein berühmtestes Bonmot zur weltgesellschaftlichen Kommunikation lautet: "Hier zählt jeder Fluch der Ruderer auf den Galeeren".
Luhmann hat Beschreibungen für einfache Interaktionssysteme (z.B. Liebesbeziehungen), Organisation, der Weltgesellschaft sowie für eine Vielzahl sozialer Funktionssysteme wie Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Religion, Erziehungswesen, Politik, aber auch Sozialarbeit und Kunst angefertigt bzw. angeregt. Dabei bedient er sich der Theoriefigur der "operativen Geschlossenheit" jedes der funktional differenzierten Systeme sowie des Gesellschaftssystems insgesamt. Diese Art der Analyse soll dem Soziologen/der Soziologin die trennscharfe Zurechnung von Kommunikationen, Ereignissen, Erlebnissen und kommunikativen Handlungen auf die gesellschaftlichen Subsysteme, ihre Codes, Medien, Strukturen, Frames und Programme ermöglichen.
Die Luhmannsche Systemtheorie hat eine teilweise heftige Debatte nicht nur in der Soziologie entfacht. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive wird moniert, die Theorie laufe aufgrund ihres tautologischen Ansatzes leer und sage uns nicht mehr über die Welt, als was wir aufgrund fachwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht ohnehin schon über sie wissen oder wissen könnten.
Werke
Umfassendes wissenschaftliches Werk mit mehr als drei dutzend Büchern, vor allem zu nennen sind:
Soziale Systeme (1984)
Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997)
Die großen Monographien zur Gesellschaftstheorie (1988-2002):
Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988)
Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990)
Das Recht der Gesellschaft (1993)
Die Kunst der Gesellschaft (1995)
Die Realität der Massenmedien (1996)
Die Politik der Gesellschaft (2000)
Die Religion der Gesellschaft (2000)
Das Erziehungssystem der Gesellschaft (2002)
> Einführend:
Einführung in die Systemtheorie (2002)
Organisationssoziologie
Organisation und Entscheidung (2000)
Funktionen und Folgen formaler Organisationen (1964)
> Aufsätze:
Soziologische Aufklärung (6 Bände)
Zur Gesellschaftsstruktur und Semantik:
Gesellschaftsstruktur und Semantik, (Frankfurt am Main), (4 Bände)
Liebe als Passion (1982)
> Weitere Werke:
Ökologische Kommunikation (1986)
Funktion der Religion (1977)
Macht (1975)
Zweckbegriff und Systemrationalität (1968)
Legitimation durch Verfahren (1969)
Rechtssoziologie (1980)
Soziologie des Risikos (1991)
Grundrechte als Institution (1965)
Literatur zu Luhmann
Baecker, Dirk, et al. (Hrsg): Theorie als Passion
Baraldi u. a. (1997): GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme
Berghaus, Margot (2003): Luhmann leicht gemacht
Giegel, Hans-Joachim / Schimank, Uwe (2001): Beobachter der Moderne
Hellmann, Kai-Uwe / Fischer, Karsten (2003): Das System der Politik
Horster, Detlef (1997): Niklas Luhmann, (Beck'sche Reihe)
Kneer, Georg / Nassehi, Armin (1993): Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme
Krause, Detlef (2001): Luhmann-Lexikon.3. Aufl. Stuttgart: UTB.
Reese-Schäfer, Walter (2001): Niklas Luhmann zur Einführung (4. Aufl.)
Schützeichel, Rainer (2003): Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann
Schuldt, Christian (2003): Systemtheorie, Hamburg, Europäische Verlagsanstalt (Reihe "wissen 3000")
Weblinks
Quellen zu Luhmann (u.A. eine Stunde Audiofeature und Interview) im rechercheportal.de (http://www.rechercheportal.de/dc/soziologie.php)
http://www.suhrkamp.de/autoren/luhmann/luhmann.htm
http://www.systemische-beratung.de/selbstreferentiell.htm
http://www.systems-thinking.de/luhmann.html
Systemtheorie und Präventionstheorie (http://www.fen.ch)
Heike Obermanns, Diplomarbeit über Georg Simmel und Luhmann (pdf) (http://de.geocities.com/h_obs1/Diplom.pdf)
riesemann - 14. Dez, 20:13
Karl Mannheim studierte Philosophie und Soziologie in Budapest, Freiburg, Berlin, Paris, Heidelberg (unter anderem hört er 1914 in Berlin Georg Simmel). 1918 erlangt er die Promotion. 1919 verlässt er seine Heimat Ungarn und emigriert in der Folge nach Deutschland. Von 1922 bis 1925 habilitierte er bei dem Kultursoziologen Alfred Weber, dem Bruder Max Webers, wurde 1926 Privatdozent in Heidelberg und 1930 ordentlicher Professor für Soziologie der Universität Frankfurt, wo ihm Norbert Elias als Assistent zur Seite stand. 1933 musste Mannheim nach England emigrieren. Dort wurde er bis zu seinem Tode Dozent für Soziologie an der London School of Economics & Political Science.
Beeinflusst insbesondere von Marx, Wilhelm Dilthey, Max Scheler, Max Weber gelangte Mannheim von einer philosophischen Analyse der Erkenntnistheorie zur Entwicklung der Wissenssoziologie. In Anlehnung an Marx hob Mannheim hervor, dass menschliches Denken und Erkennen nicht in rein theoretischem Rahmen ablaufen, sondern von gesellschaftlichen und geschiedenen Lebenszusammenhängen geprägt werden. Mit der Konzeption des "totalen Ideologiebegriffs" nahm Mannheim eine radikale wissenssoziologische Position ein, die Relativismus und Nihilismus begünstigten. Er beschäftigte sich des weiteren mit politischen Krisenerscheinungen in der Massendemokratie. Im Gegensatz zur einseitig geleiteten Gesinnung und zur laisser-faire-liberalistischen Demokratie, die die Gefahr des Umschlagens in eine totalitäre Diktatur einschließt, empfahl Mannheim als dritten Weg die "geplante Demokratie" mit einer "Planung für Freiheit", wobei Planung "als rationale Beherrschung der irrationalen Kräfte" verstanden wird. Die Gesellschaft der "geplanten Freiheit" setzt die Umformung des Menschen voraus und dafür ist eine Zusammenarbeit von Soziologen und Theologen von Bedeutung.
Von Karl Mannheim stammt der Begriff der "frei schwebenden Intelligenz", die von Menschen ausgeht, die sich von einer normativen Bindung an eine Klasse "befreit" haben.
Ebenso gilt er als Pionier der Jugendsoziologie, wobei er den Begriff der Generation benutzte, um Kohorten (Geburtsjahrgänge) zusammen zu fassen, die ein einschneidendes Jugenderlebnis (z. B. den Ersten Weltkrieg) geteilt haben und so gegenüber künftigen sozialen Herausforderungen (Lebenszusammenhängen) erwartbar einander ähnliche soziale Antworten geben würden.
Werke
Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie, Berlin 1922
Ideologie und Utopie, Bonn 1929
Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie, Tübingen 1932
Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Leiden 1935
Diagnosis of or Time, Lodon 1943
Freedom, Power and democratic Planning, Lodon 1951
riesemann - 10. Dez, 12:13
Avram Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und einer der weltweit bedeutendsten Sprachwissenschaftler. Seine Beiträge zur allgemeinen Sprachwissenschaft förderten den Niedergang des Behaviorismus und den Aufstieg der Kognitionswissenschaft. Neben seiner linguistischen Arbeit gilt Chomsky als einer der bedeutendsten Intellektuellen Nordamerikas und ist als scharfer Kritiker der US-amerikanischen Außenpolitik bekannt. Seine politische Heimat ist der Anarchosyndikalismus.
Leben
Chomsky wurde 1928 in Philadelphia (Pennsylvania) als Sohn des jüdischen Gelehrten William Chomsky geboren. Im Jahr 1945 begann er an der University of Pennsylvania Philosophie und Linguistik zu studieren. Zu seinen Lehrern zählte der Sprachwissenschaftler Zellig Harris. Chomskys anarchistische Überzeugungen bildeten sich schon in den 40er Jahren heraus. Von großer Bedeutung war dabei die Auseinandersetzung mit den anarchistischen Experimenten während des Spanischen Bürgerkriegs. Chomsky hatte in dieser Zeit auch Kontakte zu zionistischen Organisationen.
Anfang der 1950er Jahre verbrachte er einige Jahre in Harvard, bis er 1955 an der Universität von Pennsylvania in Linguistik promovierte. In seiner Doktorarbeit begann er bereits einige der Ideen zu entwickeln, die er 1957 in seinem Buch Syntaktische Strukturen, einem der bekanntesten Werke der Sprachwissenschaft, ausarbeitete.
Nach der Verleihung der Doktorwürde lehrte Chomsky zunächst als Assistenzprofessor, seit 1961 als ordentlicher Professor Linguistik und Philosophie am MIT. In den 1960er Jahren wurden seine revolutionären sprachwissenschaftlichen Arbeiten weltweit anerkannt. Seither gilt er als einer der wichtigsten Theoretiker auf diesem Gebiet.
In dieser Zeit begann Chomsky sich in der Öffentlichkeit deutlicher politisch zu artikulieren. Seit 1964 protestierte er gegen das Eingreifen der USA in Vietnam. 1969 veröffentlichte er "Amerika und die neuen Mandarine", eine Sammlung von Aufsätzen über den Vietnamkrieg. Ebenso deutlich bezog Chomsky Stellung gegen die US-amerikanische Politik in Kuba, Haiti, Ost-Timor, Nicaragua, im Palästinakonflikt und gegenüber den "Schurkenstaaten" sowie zum Golf- und Kosovokrieg, zur Frage der Menschenrechte, zu Globalisierung und neoliberaler Weltordnung. Heute ist er neben seiner weiter unbestrittenen Bedeutung für die Linguistik zu einem der bedeutendsten Kritiker der US-Außenpolitik, der politischen Weltordnung und der Macht der Massenmedien geworden.
In der "New York Times Book Review" wurde Chomsky einmal als der "wichtigste Intellektuelle der Gegenwart" bezeichnet. Noam Chomsky hierzu: "Das Zitat wurde von einem Verlagshaus veröffentlicht. Doch da sollte man immer sehr genau lesen: Wenn man nämlich das Original nachschaut, dann heisst es weiter: 'wenn dies der Fall ist, wie kann er dann solchen Unsinn über die amerikanische Außenpolitik schreiben?' Diesen Zusatz zitiert man nie. Aber um ehrlich zu sein: Gäbe es ihn nicht, würde ich glauben, ich mache etwas falsch."
Wirkung
Noam Chomsky hat die Darstellung von natürlichen Sprachen formalisiert: Die Neuerung war, sprachliche Ausdrücke mit Hilfe einer Metasprache rekursiv zu definieren. Die resultierenden Klassen von Grammatiken können in eine Hierarchie eingeteilt werden, die heute Chomsky-Hierarchie genannt wird. Seine Arbeit stellt einen wichtigen Meilenstein für die moderne Sprachwissenschaft dar.
Formale Sprachen und die Chomsky-Hierarchie spielen auch in der Informatik eine wichtige Rolle, insbesondere in der Komplexitätstheorie und im Compilerbau. Moderne Forscher wie Stephen Pinker bauen auf Chomskys Methodik auf.
Vielen Forschern innerhalb der Computerlinguistik gelten Chomskys Theorien, insbesondere die Generative Transformationsgrammatik und seine Government and Binding-Ansätze, allerdings seit ungefähr 1980 zwar als bedeutende Pionierleistung, jedoch als heute veraltet, insofern sie sich auf natürliche Sprachen beziehen -- im Gegensatz zu Programmiersprachen und anderen formalen Sprachen, wo seine Formalismen weiterhin mit Gewinn verwendet werden können.
Noam Chomsky ist seit 1965 ein führender linker Kritiker der US-amerikanischen Außenpolitik. Seine Vorträge werden außer in Büchern teilweise auch auf CDs veröffentlicht, die beispielsweise auf dem Label Alternative Tentacles von Jello Biafra erscheinen.
Beiträge zur Linguistik
Chomskys 'Syntaktische Strukturen' sind ein Destillat seines Buches “Die logische Struktur der linguistischen Theorie” (1955,1975) in dem er die Transformationsgrammatik einführte. Die Theorie nimmt Äußerungen (Worte, Phrasen, Sätze) und setzt sie mit „Oberflächenstrukturen“ in Zusammenhang, die selbst wieder mit abstrakteren Tiefenstrukturen korrespondieren. (Eine steife und klare Unterscheidung zwischen Oberflächen- und Tiefenstrukturen wird heute in gegenwärtigen Versionen der Theorie nicht mehr vorgenommen.) Umformungsregeln bestimmen zusammen mit den Regeln für die Struktur von Phrasen und anderen Strukturprinzipien sowohl die Erzeugung als auch die Interpretation von Äußerungen. Mit einem begrenzten Instrumentarium von grammatikalischen Regeln und einer endlichen Anzahl von Worten kann eine unbegrenzte Menge von Sätzen gebildet werden. Darunter solche, die noch nie zuvor gesagt wurden. Die Fähigkeit, unsere Äußerungen auf diese Weise zu strukturieren, ist angeboren und somit ein Teil des genetischen Programms des Menschen. Dieses wird Universalgrammatik genannt. Wir sind uns dieser Strukturprinzipien im Allgemeinen genausowenig bewusst, wie wir es uns der meisten unserer biologischen und kognitiven Eigenschaften sind.
Aktuelle Theorien Chomskys (wie sein Minimalismus) stellen strenge Anforderungen an die Universalgrammatik. Grammatikalischen Prinzipien unterliegende Sprachen sind festgelegt und angeboren, der Unterschied zwischen den Weltsprachen kann durch das Setzen von Parametern im Gehirn charakterisiert werden, was oft mit Schaltern verglichen wird (beispielsweise der prodrop Parameter, der anzeigt, ob ein explizites Subjekt wie im Englischen oder Deutschen immer benötigt wird -prodrop, oder es wie im Spanischen oder Italienischen auch wegfallen kann +prodrop). In Abhängigkeit von diesen Parametern weisen Sprachen grammatische Eigenschaften auf, die nicht mehr zusätzlich gelernt werden müssen. Ein Kind, das eine Sprache lernt, müsse nur die notwendigen lexikalischen Einheiten (Worte) und Morpheme erwerben und die Parameter auf passende Werte festlegen, was bereits anhand weniger Beispiele erfolgen könne.
Chomskys Herangehensweise ist durch mehrere Beobachtungen motiviert. Ihn erstaunte zunächst das Tempo, mit dem Kinder Sprachen lernen. Weiterhin stellte er fest, dass Kinder auf der ganzen Welt auf eine ähnliche Weise sprechen lernen. Schließlich bemerkte er, dass Kinder bestimmte typische Fehler machen, wenn sie ihre erste Sprache erlernen, wohingegen andere offensichtlich logische Fehler nicht auftreten.
Chomsky Ideen hatten einen starken Einfluss auf die Untersuchung des kindlichen Spracherwerbs. Die meisten in diesem Bereich arbeitenden Wissenschaftler lehnen Chomskys Theorien jedoch ab und bevorzugen Emergenz- oder Konnektionismustheorien, die auf allgemeinen Verarbeitungsmechanismen im Gehirn aufbauen. Letztlich bleiben aber praktisch alle linguistischen Theorien kontrovers, und so wird auch die Untersuchung des Spracherwerbs aus der Chomskyschen Perspektive fortgeführt.
Generative Grammatik
Chomsky Herangehensweise an die Syntax, oft generative Grammatik genannt, wurde, obwohl sie sehr verbreitet ist, durch viele - insbesondere durch außerhalb der USA arbeitende Forscher, in Frage gestellt. Chomskys syntaktische Analysen sind oft hochgradig abstrakt. Sie beruhen auf der sorgfältigen Untersuchung der Grenze zwischen grammatikalischen und ungrammatikalischen Mustern in konkreten Sprachen. (vergleiche den so genannten pathologischen Fall, der in der Mathematik eine ähnlich bedeutende Rolle spielt). Derartige grammatische Entscheidungen können genaugenommen jedoch nur durch Muttersprachler getroffen werden. Deshalb konzentrieren sich Linguisten meist auf die eigene Muttersprache beziehungsweise Sprachen, die sie fließend beherrschen, für gewöhnlich englisch, französisch, deutsch, holländisch, italienisch, japanisch oder eine der chinesischen Sprachen. Manchmal scheitert eine Analyse der generativen Grammatik, wenn sie auf eine Sprache angewandt wird, die zuvor nicht studiert wurde. Wenn neue Sprachen erforscht werden, führt dies meist zu zahlreichen Korrekturen am Konzept der generativen Grammatik. Die Anforderungen, die an linguistische Universalien (Aussagen die auf alle Sprachen zutreffen) gestellt werden, wurden im Lauf der Zeit stetig mehr. Kaynes Vorschlag aus den 1990er Jahren beispielsweise, dass alle Sprachen über eine zugrunde liegende Subjekt-Verb-Objekt Ordnung verfügen, wäre in den 1960er Jahren nicht plausibel gewesen. Eine der Hauptmotivationen für eine alternativen Auffassung, dem funktional-typologischen Verständnis oder der Sprachtypologie (die oft mit Joseph H. Greenberg in Verbindung gebracht wird), ist es, Hypothesen der linguistischen Universalien auf dem Studium einer möglichst großen Vielfalt von Sprachen zu begründen, die entdeckten Variationen zu klassifizieren und Theorien zu formen, die auf dieser Klassifikation aufbauen. Chomskys Ansatz ist zu detailliert und zu sehr auf das Wissen von Muttersprachlern bezogen, um dieser Methode zu folgen, obschon sein Ansatz im Lauf der Zeit auf ein breites Spektrum von Sprachen Anwendung fand.
Chomsky-Hierarchie
Chomsky ist, unabhängig davon, inwieweit seine Ergebnisse Schlüssel zum Verständnis menschlicher Sprache darstellen, berühmt für seine Untersuchungen formaler Sprachen. Seine Chomsky-Hierarchie teilt die formale Grammatik in Klassen wachsender Ausdruckskraft. Jede folgende Klasse kann zu einem breiteren Satz formaler Sprachen als die vorhergehende führen. Interessanterweise vertritt er die Auffassung, dass die Beschreibung einiger Aspekte der Sprache eine im Sinne der Chomsky-Hierarchie komplexere formale Grammatik benötigen, als die Beschreibung anderer Aspekte. Beispielsweise reiche eine reguläre Sprache aus, die Englische Morphologie zu beschreiben, sei aber nicht stark genug, um auch die englische Syntax zu beschreiben. Die Chomsky-Hierarachie ist über ihre Bedeutung für die Linguistik hinaus zu einem wichtigen Element der theoretischen Informatik, speziell des Compilerbaus geworden, da sie über bedeutende Verbindungen und Isomorphismen mit der Automatentorie verfügt.
Kritik an Chomskys Linguistik
Obwohl Chomskys Auffassung die bekannteste der Linguistik ist, wurden seine Ansichten kritisiert. Möglicherweise ist die bekannteste Alternative zu Chomskys Standpunkt derjenige von George Lakoff und Mark Johnson. Deren kognitive Linguistik stellt eine Weiterentwicklung seines Ansatzes dar, unterscheidet sich aber in wesentlichen Merkmalen in signifikanter Weise. Insbesondere bestritten Lakoff und Johnson die neocartesianischen Ansätze in Chomskys Theorie und stellten fest, dass er nicht in der Lage sei, darüber Rechenschaft abzulegen, inwieweit Wahrnehmung repräsentiert werden könne.
Wie bereits bemerkt wurde, ist der Standpunkt der Konnektionisten nicht mit dem Chomskys vereinbar. Ebenso sind einige neuere Strömungen in der Psychologie, wie zum Beispiel die Diskurspsychologie oder die situated cognition der konstruktivistischen Kognitionswissenschaft, mit Chomskys Ansichten unvereinbar.
Auf radikalere Weise kritisieren Philosophen, die in der Tradition Ludwig Wittgensteins stehen, wie etwa Saul Kripke, dass Chomskianer die Rolle von regelbasierter menschlicher Wahrnehmung grundsätzlich falsch einschätzen. In ähnlicher Weise widersprechen Philosophen in phänomenologischen, existentialistischen und hermeneutischen Traditionen dem abstrakten, neorationalistischen Aspekt von Chomskys Gedankengebäude. Am besten repräsentiert dürfte diese Kritik durch Hubert Dreyfuss sein, der auch durch seine beständige Polemik gegen das Konzept der Künstlichen Intelligenz bekannt ist.
Beiträge zur Psychologie
Chomskys linguistisches Werk beeinflusste maßgeblich die Entwicklung der Psychologie im 20. Jahrhundert. Seine Theorie einer Universalgrammatik war ein direkter Angriff auf die etablierten behavioristischen Theorien seiner Zeit und hatte erhebliche Auswirkungen auf das wissenschaftliche Verständnis des kindlichen Spracherwerbs und der menschlichen Fähigkeit zur Interpretation von Sprache. Selbst wenn die weitergehenden Thesen des oben beschriebenen Prinzipien- und Parametermodells heftig umstritten sind, die grundlegenden Prinzipien der Theorie Chomskys sind heute allgemein anerkannt.
1959 veröffentlichte Chomsky seine Kritik an B.F. Skinners Verbal Behavior, einem Buch, in dem der führende Vertreter der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschenden behavioristischen Psychologie behauptete, dass Sprache in erster Linie ein Verhalten (engl.behavior) sei. Dieses Verhalten, so Skinner weiter, könne wie jedes andere Verhalten – vom Schwanzwedeln eines Hundes bis zur Vorstellung eines Klaviervirtuosen – durch Belohnung und Strafe geformt werden. Sprache wird nach Skinner vollständig über Vorbilder und über die Konditionierung durch die Umwelt erworben.
Chomskys Kritik an Skinners Methodik und seinen grundlegenden Annahmen bereitete den Weg für eine Revolution gegen die behavioristische Doktrin. In seinem Buch „Cartesianische Linguistik“ von 1966 und anderen weiterführenden Arbeiten entwickelte Chomsky eine Erklärung der menschlichen Sprachfähigkeit, die auch für Untersuchungen in anderen Bereichen der Psychologie Modellcharakter entfaltete. Viele Aspekte des gegenwärtigen Konzepts von der Funktionsweise des Geistes entspringen unmittelbar Ideen, die in Chomsky ihren ersten überzeugenden zeitgenössischen Autor fanden.
Hier sind vor allem drei Kerngedanken festzuhalten. Erstens, behauptete er, ist der Geist kognitiv. Das bedeutet, dass er tatsächlich mentale Zustände, Überzeugungen, Zweifel usw. enthält. Frühere Ansichten haben das mit dem Argument abgelehnt, dass es sich lediglich um Ursache-Wirkung Beziehungen - beispielsweise der Art „Wenn Du mich fragst, ob ich X will, werde ich Y sagen“ - handle. Im Widerspruch hierzu zeigte Chomsky, dass es besser sei, den Geist zu so verstehen, als ob man es mit Gegenständlichem wie Überzeugungen oder auch Unbewusstem zu tun hätte.
Zweitens behauptete er, dass ein Großteil dessen, was der erwachsene Geist könne, bereits angeboren sei. Es käme zwar kein Kind auf die Welt, das bereits eine Sprache spreche, aber alle werden mit der Fähigkeit zum Spracherwerb geboren, die es sogar gestatte, in wenigen Jahren gleich mehrere Sprachen geradezu aufzusaugen. Psychologen erweiterten diese These weit über das Feld der Sprache hinaus. Der Geist des Neugeborenen wird heute nicht mehr als unbeschriebenes Blatt betrachtet.
Schließlich entwickelte Chomsky aus dem Konzept der Modularität ein entscheidendes Merkmal der kognitiven Architektur des Geistes. Der Geist sei aus einer Ansammlung zusammenwirkender spezialisierter Subsysteme zusammengesetzt, die aber nur eingeschränkt miteinander kommunizierten. Diese Vorstellung unterscheidet sich stark von der alten Idee, dass jedes Stückchen Information im Geist durch jeden anderen kognitiven Prozess abgerufen werden könne. (Optische Täuschungen zum Beispiel lassen sich nicht abschalten, sogar dann nicht, wenn man wisse, dass es sich um Illusionen handle).
Werke
Sprachwissenschaft
Three Models for the Description of Language, 1956
Syntactic Structures, 1957
Aspects of the Theory of Syntax, 1965
Language and Mind, 1972
Rules and Representations, 1980
Lectures on Government and Binding, 1981
Knowledge of Language. Its Nature, Origin and Use, 1986
Language and Thought, 1993
The Minimalist Program, 1995
Sonstige
Manufacturing Consent (1990)
War against People, 2001
The Attack (9-11), 2001
Profit over People, 2001
Rogue States, 2000
New War On Terrorism, 2002 (CD)
Media Control, 2003
Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US - Politik. Aktualisierte Sonderausgabe, 2003 [1] (http://www.chomsky-forum.de/cf_book_toc.php?ISBN=3-203-76014-2)
Hybris, 2004 - ISBN 3203760169
Eine Anatomie der Macht Der Chomsky-Reader. Herausgegeben von Peter Mitchell und John Schoeffel, 2004 - ISBN 3-203-76007-X Weblink zu den Fußnoten understandingpower.com
riesemann - 10. Dez, 12:11
Edmund Husserl war Philosoph.
Husserl ist der Begründer der Phänomenologie, einer als "strenge Wissenschaft" auftretenden Philosophie, die ihn zu einem der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts machte.
Er forderte die Philosophen auf, sich der vorschnellen Weltdeutung zu enthalten und bei der analytischen Betrachtung der Dinge an das zu halten, was dem Bewusstsein unmittelbar erscheint.
Dabei brach er mit dem um 1900 noch vorherrschenden Psychologismus, der die Gesetze der Logik als Ausdruck der psychischen Gegebenheiten sah, die eine Objektivität unmöglich machten.
Er glänzte weniger als akademischer Lehrer, sondern philosophierte in ungewöhnlich hohem Maße schreibend, ca. 40.000 Seiten, die mit seinen Analysen gefüllt sind, werden seit 1950 nach und nach als "Husserliana" aus seinem Nachlass herausgegeben.
Den größten Einfluss übte er auf die Existenzphilosophen Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre aus. Für die Soziologie machte v.a. Alfred Schütz den Husserlschen Ansatz fruchtbar.
Leben und Werke
Als zweiter Sohn einer jüdischen Tuchhändler-Familie legte Husserl 1876 in Olmütz seine Reifeprüfung ab. Im selben Jahr nahm er in Leipzig das Studium der Astronomie, Mathematik, Physik und Philosophie auf, das er in Berlin fortsetzte.
1882 promovierte er in Wien über die "Theorie der Variationsrechnung".
1886 folgte die Habilitation in Halle mit einer psychologischen Arbeit über den "Begriff der Zahl". Zu dieser Zeit war er in philosophischer Hinsicht bereits von Franz Brentano entscheidend angeregt.
Nach seiner Heirat mit Malvine Steinschneider (1887) erregte er mit einer "Philosophie der Arithmetik" (1891) die kritische Aufmerksamkeit des Logikers Gottlob Frege. Mit Rücksicht auf dessen Psychologismuskritik stellte er bis zur Jahrhundertwende umfangreiche "Logische Untersuchungen" an, die zu seinem ersten Hauptwerk heranwuchsen und dem Zweiundvierzigjährigen einen Ruf nach Göttingen einbrachten (ab 1901 außerordentlicher, ab 1906 ordentlicher Professor).
Persönlich bekannt wurde er in der 15 Jahre währenden Göttinger Zeit unter anderem mit dem Mathematiker David Hilbert, den Philosophen Wilhelm Dilthey, Max Scheler und Karl Jaspers sowie dem Dichter Hugo von Hofmannsthal.
1916 - also mitten im Ersten Weltkrieg, dem sein Sohn zum Opfer fiel - trat Husserl in Freiburg die Nachfolge des Neukantianers Heinrich Rickert an. Empfohlen hatte er sich für diese Berufung mit den "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie" (1913). Im Kreis der frühen Schüler stieß die "idealistische" Wendung dieses zweiten Hauptwerks indes auf einiges Unverständnis.
1918 gründete er die "Freiburger phänomenologische Gesellschaft". Seine erste Assistentin war die Jüdin und spätere katholische Ordensfrau Edith Stein; sie wurde 1919 von Martin Heidegger abgelöst, der zu Beginn des "Jahrhundertbuchs" "Sein und Zeit" (1927) seinen wichtigsten Lehrer mit den Worten würdigte:
"Wenn die folgende Untersuchung einige Schritte vorwärts geht in der Erschließung der 'Sachen selbst', so dankt das der Verfasser in erster Linie Edmund Husserl, der den Verfasser während seiner Freiburger Lehrjahre durch eindringliche persönliche Leitung und durch freieste Überlassung unveröffentlichter Untersuchungen mit den verschiedensten Gebieten phänomenologischer Forschung vertraut machte."
Heidegger war es auch, der 1928 Husserls Nachfolge in Freiburg antrat.
Husserls letztes Lebensjahrzehnt begann mit etlichen Vortragsreisen (Amsterdam, Paris, Frankfurt am Main, Berlin, Halle (Saale), Wien, Prag). Gleichzeitig entstand ein drittes Hauptwerk: "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie". In dieser Spätphase stand der Begriff "Lebenswelt" im Zentrum seines Denkens, mit dem er noch einmal einen Neuansatz plant. Nun sieht er in der radikal objektivistischen Sicht der Naturwissenschaften den Grund für die Sinnkrise der Moderne, da sie den Bezug zum Leben verloren hat.
Der viel geehrte Husserl (Universitäten von Paris, Prag, London, Boston) bekam in den letzten Jahren seines Lebens die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus zu spüren. Er wurde am 6. April 1933 durch badischen Erlass unter Rektor Sauer beurlaubt. Während der kurzen Rektoratszeit seines Schülers Martin Heidegger an der Freiburger Universität, wurde dieser Erlass für die Beurlaubung Husserls am 20. Juli 1933 wieder aufgehoben. 1936 musste der Siebenundsiebzigjährige aber noch den Entzug seiner Lehrbefugnis und in der Folge weitere Schikanen erleben; so wurde das Ehepaar Husserl im Sommer 1937 aus der Freiburger Wohnung vertrieben. Die dort gelagerte stenographische "Urfassung" der Husserliana in Sicherheit zu bringen, gelang 1939 in einer abenteuerlichen Aktion dem belgischen Franziskanerpater Herman Leo Van Breda, der dann das Husserl-Archiv in Löwen gründete.
Zentrale Gedanken und Begriffe
Die Intentionalität des Bewusstseins: Alle Akte des Bewusstseins sind sinnstiftend. Dadurch wird das Betrachtete in seinem eigentlichen An-sich-sein verfälscht. Dies ist aber eine psychische Notwendigkeit, da jeder Gegenstand mannigfaltige Aspekte enthält, die bei der Wahrnehmung nicht alle beachtet werden können. So wird der wahre Gegenstand zu einem "vermeintlichen".
Die phänomenologische Reduktion: Um den wahren Wesensgehalt eines Gegenstandes zu erkennen, müssen wir unsere Einstellung zu ihm ändern. Wir müssen uns jeglichen (Vor-)Urteils ihm gegenüber enthalten. Dieses Sich-zurück-nehmen nannte Husserl Epoché, beziehungsweise Einklammerung.
Die eidetische Reduktion: Aus der durch die Enthaltung gewonnenen Neutralität heraus ist es nun möglich, zum Wesen einer Sache, beziehungsweise "zu den Sachen selbst" vorzudringen. Jetzt sind nur noch die Bewusstseinsakte selbst Gegenstand der Betrachtung. Die Existenz des Gegenstandes wird "transzendiert". Was übrigbleibt, ist die "absolute Seinsregion des Bewusstseins" selbst. Mit dieser eidetischen Reduktion gelingt eine Wesensschau, die uns zeigt, wie sich die Welt im Bewusstsein konstituiert.
riesemann - 10. Dez, 12:05
Paulo Freire war ein einflussreicher Pädagoge der Theorie und Praxis. Paulo Freires Mutter war in seinen Worten "lieb, freundlich und gerecht". Seine Eltern gehörten zur Mittelklasse in Brasilien. Sein Vater war ein Militärpolizist. Er wurde 1997 - kurz nach seinem Tode - zum Ehrendoktor des Fachbereiches Pädagogik an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg ernannt.
In der weltweiten ökonomischen Krise (1929) machte Paulo Freire die Erfahrung des Hungerns. Deswegen zogen die Freires nach Jabato, wo sein Vater starb. Hier, mit elf Jahren "widmete Paulo Freire sein Leben dem Kampf gegen den Hunger, so dass andere Kinder nie erleben müssen, was er erlebt hatte."
Paulo Freire war kein sehr guter Schüler. Nach der Schule studierte er zuerst Jura und wurde ein Anwalt. Aber er war nicht von seinem Beruf überzeugt, weil die Anwälte das Besitztum der Reichen verteidigten. Dies war ein Grund, warum Paulo Freire ein Lehrer für Portugiesisch wurde. Seine Interessen lagen mehr in der Philosophie, Psychologie, Pädagogik und den Sprachen.
Mit 23 Jahren heiratete er die Lehrerin Elza Matia Costa. Er hat mit ihr 5 Kinder. Nach ihrer Heirat studierte er systematisch Erziehungswissenschaften. Zwischen 1946 und 1954 war Paulo Freire der Direktor des Department Erziehungswissenschaften und Kultur in Pernambuco. Hier begann Paulo Freire den Dialog mit den Menschen. 1946 wurde er Dozent an der Universität von Recife. Der Beginn seiner Alphabetisierungskampagne war 1947. Das war die Zeit in der Paulo Freire die "Kultur des Schweigens" entdeckte. 1959 erhielt Paulo Freire den Doktortitel an der Universität von Recife. Er blieb an der Uni und lehrte Philosophie und Erziehungswissenschaften.
Im Jahre 1961 wurde João Goulart neuer Präsident von Brasilien. Er war sehr populär und unterstützte die Arbeit von Paulo Freire. Zwischen 1961 und 1964 war die Hauptzeit der Alphabetisierungskampagne Paulo Freires. Am 1. April 1964 übernahm das Militär die Staatsgewalt. Paulo Freire wurde unter Hausarrest gestellt, anschließend war er 70 Tage im Gefängnis und wurde schließlich nach Chile abgeschoben. Im Gefängnis begann er sein Buch: "Education: The practice of freedom".
Zudem hielt er Vorträge am CIDOC in Cuernavaca.
In Chile arbeitete er mit der UNESCO und der chilenischen Weiterbildungseinrichtung zusammen. Sein Alphabetisierungsprogramm wurde in Chile übernommen. 1969/70 war Paulo Freire Professor an der Harvard University. 1970 wurde Paulo Freire ein "Counsellor of the Office of Education at the World Council of Churches in Geneva", welcher er für mehr als 10 Jahre war. Des Weiteren war er Präsident der INDEP, der IDAC und Mitglied der UNESCO. Außerdem arbeitete er mit der ILO in Genf, der FAO in Rom, der IRFED in Paris und dem "Center for the Study of Development and Social Change in Cambridge (USA)" zusammen.
1970 veröffentlichte Paulo Freire die Bücher "Cultural Action for Freedom" und "Pedagogy Of The Oppressed". Das Letztere wurde in 18 Sprachen übersetzt. 1973 veröffentlichte er "Education for Critical Consciousness" und im nächsten Jahr "Conscientization. Teoria y practica de la liberacion". 1975 veröffentlichte er zusammen mit Ivan Illich das Buch "Dialogo". Aus seinem Engagement in Afrika entstand das Buch "Pedagogy in Process. The letters to Guinea-Bissau" im Jahre 1979.
1980 war es für Paulo Freire wieder möglich nach Brasilien zurück zu gehen. 1985 veröffentlichte Paulo Freire das Buch "The Politics of Education" und 1987 – zusammen mit Ira Shor – "A Pedagogy for Liberation". Außerdem veröffentlichte er noch unzählige Artikel in Fachzeitschriften und einige andere Bücher. Die oben aufgeführten Bücher sind die wichtigsten.
Paulo Freire ist sehr religiös. Er ist ein Katholik. Andererseits kann man ihn als radikalen Aufklärung bezeichnen. Seine Theorie entwickelte er aus vielen Theorien. Es ist nicht falsch, Paulo Freire als Eklektiker zu bezeichnen. Er vereinigt die Theorien von Descartes, Immanuel Kant, Hegel, Karl Marx, Karl Jaspers, Sartre, Marcel, Georges Bernanos, Mourniers, Manitaus, Freyres, Claude Lévi-Strauss, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Kolakowski, Martin Buber, Noam Chomsky, Frank usw.
Figueroa meint, dass Paulo Freires Theorie am "entschiedensten geprägt ist ... durch die Wissenssoziologie Karl Mannheims, die Sprachtheorien Ferdinand de Saussures und Carles Bullys sowie durch die Phänomenologie Edmund Husserls." (Figueroa, S. 15)
Freire bezieht sich in seinen Werken immer wieder auf die Dialektik des Konkreten von Karel Kosik.
Paulo Freires Alphabetisierungsprogramm
Paulo Freire entwickelte nach dem 2. Weltkrieg ein Alphabetisierungsprogramm, das nicht nur eine Technik des raschen und gezielten Erwerbs von Lesen und Schreiben, sondern darüber hinaus eine Methode der Bewusstseinsbildung darstellt. In dem Zusammenhang muss man wissen, dass in Brasilien zu der Zeit nur diejenigen wahlberechtigt waren, die auch lesen und schreiben konnten. Er sah also sein Programm als ein Schritt zur Demokratisierung Brasiliens an.
Bewusstseinsbildung
Grundlage: Die Theorie Karl Mannheims
"Karl Mannheim rekonstruiert die historische Entwicklung des Menschen in drei Stufen. Ursprünglich bestimmt die Hordensolidarität die zwischenmenschlichen Beziehungen. Auf der zweiten Stufe beginnt sich der Mensch als Individuum zu erfahren, indem er in Konkurrenz zu anderen tritt. Der Mensch auf der Stufe der nachindividuellen Gruppensolidarität bildet die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der wir heute leben."
Freire nennt die erste Stufe "semi-transitive consciousnes" und die nächste Stufe "naive-transitive consciousness". Diese Stufe kann führen "toward critical transitivity, characteristic of a legitimately democratic mentality, or it can deflected toward the debased, clearly dehumanized, fanaticized consciousness characteristic of massification."
Paulo Freires Anthropologie
Paulo Freire stellt seine Anschauung vom Menschen durch den Unterschied zu den Tieren dar. So sagt er, "daß von den unvollendeten Wesen der Mensch das einzige ist, das nicht nur sein Handeln, sondern auch sein eigenes Selbst zum Gegenstand seiner Reflexion macht." Tiere sind nur "Wesen in sich selbst", "ahistorisch, "lediglich stimuliert" und "können sich selbst nicht verpflichten".
Nach seiner Meinung ist jeder Mensch in der Lage, ein kritisches Bewusstsein zu erreichen. Ein kritisches Bewusstsein ist gekennzeichnet u.a. durch:
Tiefe in der Interpretation von Problemen
der Substitution von magischen Erklärungen durch Kausalprinzipien
Vermeidung von Verzerrungen bei der Wahrnehmung von Problemen
die Zurückweisung Verantwortung auf andere abzuschieben
passive Positionen zurückzuweisen
den DIALOG zu praktizieren und nicht zu polemisieren
das Neue kritisch zu akzeptieren und das Alte nicht zu verurteilen, usw.
Das Alphabetisierungsprogramm
Die Kultur des Schweigens
Paulo Freire nennt die Kultur des ländlichen Proletariats und der Slumbewohner Brasiliens die Kultur des Schweigens. Er sieht wie diese Menschen sich ihrem Schicksal - "es ist alles Gottes Wille" - ergeben, wie sie dem Mythos verfallen schlechtere Menschen zu sein und apathisch ihren Unterdrückern, z.B. Gutsherren, vertrauen. Konsequenterweise lehnen die Unterdrückten deswegen auch Bildung ab - ihre Unterdrücker regeln für sie ja alles. Dafür verantwortlich ist auch das herrschende Schulwesen, welches nicht auf die Probleme der SchülerInnen eingeht, sondern Wissen nach westlichen Vorbild verbreiten will oder muss.
Das Gegenkonzept
Paulo Freire will die herrschende Passivität aufbrechen. Er führt sein anthropologisches Konzept der Kultur ein, "that is, the distinction between nature and culture." Er glaubt, führt Cynthia Brown fort, dass eine Diskussion über diese Unterscheidung Analphabeten zu der Erkenntnis führt, das sie genauso Kultur schaffen wie belesene Menschen, das Kultur Menschengeschaffen ist und somit auch veränderbar ist. Die Unterscheidung zwischen Kultur und Natur beinhaltet auch den Unterschied zwischen Mensch und Tier und die Wichtigkeit von Sprache und Schrift in diesem Zusammenhang.
Um die Diskussion über Natur und Kultur, Menschen und Tiere und Kultur im Leben der Menschen anzustoßen, ließ Paulo Freire 10 Bilder von einem Maler anfertigen, die dann abfotografiert wurden. Mit Hilfe eines Diaprojektors wurden diese Bilder in den Dörfern an die Wand geworfen.
Der "Koordinator" beginnt mit den Dorfbewohnern, die freiwillig den Alphabetisierungskurs besuchen, einen Dialog. Die Dias werden nacheinander durchgesprochen. Hier können die TeilnehmerInnen ihr "real knowledge" ausdrücken, ohne das sie lesen oder schreiben können müssen. Dies regt die TeilnehmerInnen an, nun selber lesen zu lernen. Paulo Freire nennt diesen Prozess "Bewusstseinsmachung". Für ihn ist es ein Prozess, in dem die TeilnehmerInnen angeregt werden ihre eigene Situation zu analysieren um dann ihr Leben selbst zu gestalten, um ihre eigene Lebenssituation zu gestalten.
Der Ablauf des Alphabetisierungsprogramms
a.) Die Autoritäten des Dorfes werden aufgesucht, um ihr Einverständnis zum Alphabetisierungsprogramm einzuholen.
b.) Das Leben und das Vokabular der Gemeinschaft wird untersucht.
c.) 16 generative Wörter werden kodiert und auf Dias, Poster, usw. geschrieben. Portugiesisch ist eine "Silben-Sprache". Aus verschiedenen Silben können neue Wörter gebildet werden.
d.) Eine "discovery-card", auf der einzelne Silben abgebildet sind, wird entwickelt.
e.) Ein Raum im Dorf wird angemietet.
f.) Koordinatoren, keine Lehrer, werden ausgewählt und ausgebildet.
g.) Ein "Kulturkreis", keine Klasse, wird gebildet. Er besteht aus 25 bis 30 TeilnehmerInnen.
Wenn die Gruppe sich gebildet hat, verläuft es weiter wie folgt:
I.) Einmal die Woche trifft sich die Gruppe für eine Stunde ca. 6- bis 8-mal.
II.) Die ersten Sitzungen werden dazu benutzt, die Unterschiede zwischen Natur und Kultur anhand der 10 Dias zu analysieren.
III.) In der nächsten Sitzung wird das erste generative Wort gebildet - mit Hilfe der "discovery-card". Am Ende werden die TeilnehmerInnen aufgefordert, neue Wörter aus den Silben zu bilden.
IV.) In den verbleibenden Sitzungen werden die anderen generativen Wörter einzeln eingeführt. Die TeilnehmerInnen schreiben und lesen in den Sitzungen, drücken ihre Meinung aus und schreiben sie auf. Sie lesen Zeitungen und diskutieren über lokale Ereignisse.
Pädagogik der Unterdrückten
1970 erschien Paulo Freires befreiungspädagogisches Hauptwerk - "Pädagogik der Unterdrückten". Diese Buch wurde in 18 Sprachen übersetzt. Zwar weist Paulo Freire nicht explizit darauf hin, dass dieses Buch auf den Erfahrungen aufbaut, die er in der Alphabetisierungskampangne gemacht hat, aber implizit findet man die Grundstruktur wieder.
Die Analyse des herrschenden Schulsystems - "the banking concept of education"
Die vorherrschende Unterrichtsmethode nennt Paulo Freire "Bankiers-Methode". Er macht seine Kritik deutlich, in dem er den Positivismus seiner Zeit kritisiert. So behauptet er, das die Anhänger des Positivismus glauben, dass das "menschliche Bewusstsein etwas leeres und passives ist, in dem es nichts gibt, was bewusst gemacht werden sollte." (Figueroa, S. 24) So schreibt Paulo Freire: "Das Bankiers-Konzept beruht auf der Voraussetzung einer Spaltung zwischen Mensch und Welt: der Mensch ist nur in der Welt, aber nicht mit der Welt oder mit anderen. Der Mensch ist Zuschauer, nicht Neuschöpfer. In dieser Sicht ist der Mensch nicht ein bewusstes Wesen, vielmehr ist er Besitzer eines Bewusstseins: eines leeren Sinnes, der dem Empfang von Einlagen an Wirklichkeit aus der Außenwelt passiv offen steht."
In der "Bankiers-Methode" wird Erziehung zu einem Akt der Spareinlage. Der Lehrer macht Einlagen in die Köpfe der Schüler. Die Aufgabe des Lehrers ist es, die Köpfe der SchülerInnen "mit den Inhalten seiner Übermittlung zu füllen¯ - mit Inhalten, die von der Wirklichkeit losgelöst sind, ohne Verbindung zu einem größeren Ganzen, das sie ins Leben rief und ihnen Bedeutung verleihen könnte." (Ebd., S. 57) "Je vollständiger er die Behälter füllt, ein desto besserer Lehrer ist er. Je williger die Behälter es zulassen, dass sie gefüllt werden, um so bessere Schüler sind sie." (Ebd.) Paulo Freire behauptet, dass diese "Bankiers-Methode" die SchülerInnen passiv macht. Sie nehmen die ihnen präsentierte Welt hin und passen sich der scheinbaren Realität an. So entwickelt sich nach Paulo Freire kein kritisches Bewusstsein.
Die Alternative - "the problem-posing concept of education"
"In der Problemformulierenden Bildung entwickeln die Menschen die Kraft, kritisch die Weise zu begreifen, in der sie in der Welt existieren, mit der und in der sie sich selbst vorfinden. Sie lernen die Welt nicht als statische Wirklichkeit, sondern als eine Wirklichkeit im Prozess sehen, in der Umwandlung." (Ebd., S. 67)
Paulo Freires Konzept sieht vor den Lehrer-Schüler-Widerspruch, wie er in der "Bankiers-Methode" vorherrscht, aufzuheben. So bezeichnet er sie konsequenterweise als "Lehrer-Schüler" bzw. als "Schüler-Lehrer". Durch wahren Dialog der "Schüler-Lehrer" und der "Lehrer-Schüler" sollen beide die Wirklichkeit enthüllen. Dialog kann "nicht existieren, wo es an der tiefen Liebe für Welt und Menschen fehlt" (Ebd., S. 72); wo es nicht "einen intensiven Glauben an den Menschen, einen Glauben an seine Macht, zu schaffen und neu zu schaffen, zu machen und neu zu machen, Glauben an seine Berufung, voller Mensch zu sein" (Ebd., S. 74) fehlt; "ohne dass sich die Dialogpartner auf kritisches Denken einlassen." (Ebd.)
Nach Paulo Freire entdeckt man bei der Analyse des Dialogs, "was das Wesen des Dialogs ausmacht: das Wort" (Ebd., S.71). Das Wort ist mehr als ein Instrument, das den Dialog ermöglicht. In ihm entdeckt Paulo Freire zwei konstitutive Elemente: Reflexion und Aktion. Für ihn beruht Praxis auch auf Reflexion und Aktion.
Wenn im Unterricht nur theoretisch reflektiert wird, fehlt die Aktion. Dies bezeichnet Paulo Freire als "Verbalismus". Wenn andererseits das Gewicht mehr auf Aktion gesetzt wird, fehlt die Reflexion. Dies bezeichnet er als "Aktionismus". Ein guter Unterricht muss also ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Reflexion und Aktion anstreben.
Werke
Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek Hamburg, 1973
engl.: Pedagogy Of The Oppressed, New York, Thirty Second Printing, 1990
Erziehung als Praxis der Freiheit, Stuttgart-Berlin, 1974
Der Lehrer ist Politiker und Künstler. Neue Texte zur befreienden Bildungsarbeit, Reinbek bei Hamburg, 1981
A few notions about the word "concientization". in: R. Dale, G. Esland, M. MacDonald, M., Schooling and Capitalism: A Sociological Reader, London, Routledge and Kegan Paul, 1976
Concientization, The Month, May, 1974
Education: The Practice of Freedom, London, Writers and Readers, 1974
A Pedagogy for Liberation, zus. m. Ira Shor, London, MacMilliam, 1987
riesemann - 10. Dez, 12:03
Francisco Varela (* 7. September 1946, Santiago de Chile; † 28. Mai 2001, Paris) war ein chilenischer Biologe and Philosoph, der, zusammen mit Humberto Maturana, vor allem für die Einführung des Konzepts der Autopoiese und die Begründung des radikalen Konstruktivismus' bekannt wurde.
Bibliographie
H. Maturana und F. Varela: Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living, Boston: D. Reidel, 1980
F. Varela: Principles of Biological Autonomy, New York: Elsevier/North-Holland, 1979
H. Maturana und F. Varela: The Tree of Knowledge: The Biological Roots of Human Understanding, Boston: Shambhala, 1987-1998
F. Varela, E. Thompson und E. Rosch: The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience, Cambridge: The MIT Press, 1991
F. Varela und P. Bourgine (Hg.): Towards a Practice of Autonomous Systems: The First European Conference on Artificial Life, Cambridge: The MIT Press, 1992
J. Hayward und F. Varela (Hg.): Gentle Bridges: Dialogues Between the Cognitive Sciences and the Buddhist Tradition, Boston: Shambhala, 1992
D. Stein und F. Varela (Hg.): Thinking About Biology: An Introduction to Theoretical Biology, Reading: Addison-Wesley, SFI Series on Complexity, 1993
F. Varela (Hg.): Sleeping, Dreaming and Dying, Boston: Wisdom Book, 1997
F. Varela: Invitation aux sciences cognitives, Paris: Seuil, 1996-1999
F. Varela: Ethical Know-How: Action, Wisdom and Cognition, Stanford: Stanford University Press, 1999
F. Varela und J. Shear (Hg.): The View from Within: First-Person Methodologies in the Study of Consciousness, London: Imprint Academic, 1999
J. Petitot, F. Varela, B. Pachoud und J-M. Roy (Hg.): Naturalizing Phenomenology: Contemporary Issues in Phenomenology and Cognitive Science, Stanford: Stanford University Press, 1999
riesemann - 9. Dez, 23:55
Humberto Maturana (* 1928 in Santiago de Chile) ist ein chilenischer Biologe mit dem Schwerpunkt Neurobiologie. Gegenwärtig lebt er in Santiago de Chile und leitet das Institut Matriztica in Santiago, arbeitet dort am Verhältnis der „Biologie der Liebe“ („biologia del amar“) zur Biologie der Erkenntnis („biologia del conocer“), die er beide als sich kreisförmig wechselseitig beeinflussend betrachtet. Maturana studierte ab 1948 Medizin an der Universidad de Chile und ab 1954 Biologie/Anatomie in London/England. Dort entstand erstmals eine Theorie zur Existenz lebendiger Systeme als autonome dynamische Einheiten. Ab 1956 absolvierte er ein Promotionsstudium an der Harvard University, wo er 1958 zum Ph.D. graduierte. Er arbeitete bis 1960 am MIT (Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Massachusetts) in einer Postdoc-Stelle an Forschungen über das Auge (blinder Fleck) hin zu erkenntnistheoretischen Fragen. Er erhielt 1960 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Biologie an der Fakultät für Medizin der Universidad de Chile, Santiago de Chile. Seit 1961 arbeitet er an Fragen der visuellen Perzeption, insbesondere der Farbwahrnehmung und der Unterscheidung von lebenden und nicht-lebenden Systemen. Er reiste 1968 auf Einladung Heinz von Foersters nach Urbana und nahm von 1969-1970 eine Gastprofessor an der University of Illinois wahr. Von 1970-73 arbeitete er in enger Kooperation mit Francisco J. Varela in Santiago de Chile. Ab 1970 widmete er sich vor allem Weiterentwicklung der Biologie der Erkenntnis und beschäftigt sich als Neurophysiologe mit erkenntnistheoretischen Problemen über den Weg der "Biologie des Erkennens".
Maturanas Werk und insbesondere sein Begriff der Autopoesis hatte Auswirkungen über die Biologie hinaus. Er gilt als einer der Begründer des radikalen Konstruktivismus'. Seine Theorien beeinflussten unter anderem Heinz von Foerster und Niklas Luhmann. Er selbst distanzierte sich in einem Interview aus dem Jahre 2002 sehr deutlich davon, als Konstruktivist gewertet zu werden.
Werke
Liebe und Spiel : Die vergessenen Grundlagen des Menschseins (mit Gerda Verden-Zöller)
Biology of Cognition (Link auf den Text) (http://www.enolagaia.com/M70-80BoC.html), 1970
Autopoiesis and Cognition (mit Francisco J. Varela), 1980
Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens (mit F. Varela), 1987
Erkennen : Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, 1982
Zur Biologie der Kognition : Ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes, (mit Volker Riegas und Christian Vetter), 1990
Was ist erkennen?, 1994
"Ich bin kein Konstruktivist", Interview in Päd. Forum 2003
riesemann - 9. Dez, 23:54
Erich Fromm wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Einer breiten Öffentlichkeit ist er als Autor der beiden Werke "Die Kunst des Liebens" und "Haben und Sein" bekannt; sein wissenschaftliches Werk geht weit darüber hinaus und ist soeben in zwölf Bänden neu erschienen. In "Die Furcht vor der Freiheit" und "Anatomie der menschlichen Destruktivität" entwickelt Erich Fromms beispielhaft seine eigenständige Analytische Sozialpsychologie und erforschte jene, meist unbewussten Haltungen, die das Leben der Menschen und die gesellschaftlichen Strukturen moderner Gesellschaften bestimmen. Fromm löst sich dabei von der Psychoanalyse Freuds und ihren triebtheoretischen Annahmen und entwickelte eine eigenständige Psychoanalyse und humanistische Ethik. Sie basieren auf einer Bedürfnistheorie, die dem Menschen als einem Wesen der Freiheit und Bezogenheit gerecht wird. Der entscheidendste Begriff, der Fromms Entdeckungen des gesellschaftlichen Unbewussten widerspiegelt, ist der des Gesellschafts-Charakter; Freiheit und Liebe sind die beiden Begriffe, mit denen Fromm die lebensfördernden Orientierungen des Menschen charakterisiert.
Anfang der 30er Jahre emigriert Erich Fromm wie andere Juden vor dem nahenden Unheil in die USA, später nach Mexiko und kehrt 1974 nach Europa, nicht wieder nach Deutschland, zurück. Bis zu seinem Tode am 18. März 1980 lebte er in Locarno. Das Institut für Erziehungswissenschaft nimmt in Verbindung mit der Volkshochschule Bonn im Jahre 2000 das Doppeljubiläum: 100. Geburtstag und 20. Todestag Erich Fromms zum Anlass, eine öffentliche Tagung zur Aktualität des Werkes von Erich Fromm für die Pädagogik auszurichten. Erich Fromm war kein Pädagoge im engeren Sinne, dennoch hat er durch sein ganzes Werk hindurch die gesellschaftliche Bedeutung von Erziehung analysiert und Bedingungen einer humanen Erziehung aufgezeigt.
Erich Fromm sprach sein wissenschaftliches und ethisches Grundanliegen zur Erziehung, das Personen und gesellschaftliche Strukturen betrifft, in seinem Werk "Jenseits der Illusion" präzise so aus:
"Ich glaube, Erziehung bedeutet, dass man die Jugend mit dem Besten bekanntmacht, was ihr die Menschheit hinterlassen hat. Wenn dieses Erbe auch großenteils in Worten überliefert ist, so kann es doch nur wirksam werden, wenn diese Worte in der Person des Lehrers und in der Praxis und Struktur der Gesellschaft Wirklichkeit werden. Nur die Idee, die 'Fleisch wird', kann einen Einfluss auf den Menschen ausüben; die Idee, die ein Wort bleibt, kann nur Worte ändern."
einen umfangreichen, guten Beitrag gibt es hier:
Erich Fromm und die Pädagogik (106 Seiten)
www.erich-fromm.de/data/pdf/Classen-Paedagogik.pdf
Literatur: Arnold, R.: Humanistische Pädagogik. Emotionale Bildung nach Erich Fromm. Stuttgart. 2002
riesemann - 3. Dez, 08:47
Darwin war u.a. Evolutionstheoretiker.
Seine Theorie ist heute die Grundlage aller biologischer Wissenschaft. Sein Buch "über den Ursprung der Arten", das vor rund 150 Jahren veröffentlicht wurde, stellt tatsächlich einen Meilenstein in der Entwicklung der Wissenschaft und Philosophie dar. Die Theorie über die Stammesgeschichte und Entwicklung der Lebensformen auf der Erde hat aber eine Geschichte, die bis in die Antike zurück reicht und auch heute noch weitergeschrieben wird. Wir gehen dieser Geschichte nach und versuchen so, die moderne Evolutionstheorie und ihre Bedeutung als Grundlage und Ziel der biologischen Forschung zu verstehen.
Lebenslauf
Der siebenjährige Charles Darwin (1816)Darwin wurde in Shrewsbury, England als fünftes von sechs Kindern geboren. Die Eltern waren Robert und Susannah Darwin, seine Großväter waren der Kunstkeramiker Josiah Wedgwood und der Naturwissenschaftler Erasmus Darwin.
Nach der Schule studierte Darwin ab 1825 Medizin in Edinburgh. Dort wurde er von Robert Edmund Grant beeinflusst, einem Anhänger Lamarcks. Wegen seiner Abneigung gegen das Sezieren und die grausamen Zustände bei Operationen zur damaligen Zeit - die Narkose war noch nicht erfunden - brach er sein Studium 1827 ab.
Sein Vater schrieb ihn in Cambridge für Theologie ein, da er sich wegen des Studienabbruchs Sorgen machte, aus seinem Sohn würde nichts werden. Er hoffte, dass Charles einmal Pfarrer werden würde. In Cambridge wurde er von Wissenschaftlern wie William Whewell, Adam Sedgwick und John Stevens Henslow für die Naturwissenschaften wie Geologie begeistert, aber auch schon vorher sammelte er gerne Käfer, eine Leidenschaft, zu der er durch seinen Cousin William Darwin Fox kam.
Darwin wollte mit einigen Studienkollegen nach dem Abschluss des Studiums Madeira besuchen, aber dieser Plan fiel ins Wasser. Henslow jedoch empfahl ihn als Begleiter für Robert Fitzroy, dem Kapitän der HMS Beagle, die zu einer fünfjährigen Expedition (1831-1836) aufbrechen sollte, um die Küstenlinie Südamerikas zu kartieren. Vor der Abfahrt verbrachte Darwin noch ein paar Wochen mit Sedgwick und erforschte Gesteinsschichten in Wales. Abgesehen von ein paar Vorlesungen in Edinburgh waren dieses die einzigen geologischen Studien Darwins.
Darwins Arbeit während der Expedition erlaubte es ihm, sowohl die geologischen Eigenschaften von Kontinent und Inseln wie auch eine Vielzahl von Lebewesen und Fossilien zu studieren. Auf seiner Reise besuchte er die Kapverdischen Inseln, die Falklandinseln, die südamerikanische Küste, die Galapagos-Inseln und Australien, wobei er eine beträchtliche Zahl von Proben sammelte.
1836, nach seiner Rückkehr, analysierte Darwin die gesammelten Stücke und bemerkte Ähnlichkeiten zwischen Fossilien und noch lebenden Tieren in der gleichen geographischen Region. Insbesondere fiel ihm auf, dass jede Insel ihre eigenen Schildkröten- und Vogelarten hatte, die sich leicht voneinander in Aussehen, Ernährung usw. unterschieden, ansonsten sich aber recht ähnlich waren. Besonders bei den Exemplaren der Galapagos-Inseln war das klar zu sehen. Er entwickelte die Theorie, dass z. B. all die verschiedenen Schildkrötenarten von einer einzigen Art abstammten und sich an die unterschiedlichen Lebensbedingungen der verschiedenen Inseln angepasst hatten.
Auf diesen Gedanken aufbauend formulierte er seine Überlegungen zu den Veränderungen und Entwicklungen der Arten in seinem Notebook on the Transmutation of Species. Sie standen im Einklang mit Lyells Principles of Geology und Thomas Robert Malthus Essay on the Principle of Population. Malthus war der Meinung, dass die Bevölkerung schneller wächst als die Nahrungsmittelproduktion und deshalb durch Hungersnöte begrenzt wird. Malthus war zu dem Schluss gekommen, dass die Bevölkerung in geometrischer Reihe (2,4,8,16 ...) ansteigt, die Ressourcen (Nahrungsmittel) jedoch nur in arithmetischer Reihe (2,3,4,5 ...) zunehmen. Die düstere Folge davon waren für Malthus Überbevölkerung und Hungersnöte (Wuketits, Franz M.: Charles Darwin. Der stille Revolutionär, o. Aufl. München - Zürich 1987).
1842 schrieb Darwin seine Theorie in einem kurzen Entwurf nieder, woraus bis 1844 eine 240 Seiten umfassende Abhandlung wurde, die eine erweiterte Version seiner frühen Ideen über die natürliche Selektion war. Zwischen 1844 und 1858 modifizierte er diese Theorie vielfach. Darwin heiratete 1839 seine Kusine Emma Wedgwood. Nach einigen Jahren in London zogen sie schließlich nach Downe House in Downe, Grafschaft Kent. Die Darwins hatten 10 Kinder, von denen drei früh starben. Zwischen 1839 und 1843 wurde Darwins Zoology of the Voyage of H.M.S. Beagle in fünf Bänden veröffentlicht. Am 1. Juli 1858 wurde Darwins Schrift über den Ursprung der Arten durch Mittel der natürlichen Selektion oder die Erhaltung bevorzugter Rassen im Kampf um das Leben vor der Königlichen Linné-Gesellschaft verlesen, am gleichen Tag wie auch eine Schrift von Alfred Russel Wallace, der unabhängig von Darwin eine ähnliche Theorie ("Survival of the Fittest") entwickelt hatte.
Darwins Buch Vom Ursprung der Arten durch Mittel der natürlichen Selektion oder die Erhaltung bevorzugter Rassen im Kampf um das Leben wurde ein Jahr später veröffentlicht und erregte so viel Interesse, dass die Bestände des Verlags noch am ersten Tag komplett an die Buchläden verkauft wurden. In seinen späteren Büchern The Variation of Animals and Plants Under Domestication (1868), The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (1871) und The Expression of Emotions in Animals and Man (1872) führte Darwin viele Themen weiter aus, die er in 'Ursprung der Arten' vorgestellt hatte.
Da Darwin seine Vorstellungen mit dem sich damals entwickelnden Sozialdarwinismus auch auf soziale Konflikte übertragen sah, versuchte er sich davon in einigen Spätwerken zu distanzieren. So betont er in Descent of Man: Moralische Fähigkeiten sind höher einzustufen als intelllektuelle. Moralische Eigenschaften erleben einen direkten oder indirekten Fortschritt weit mehr durch das Einwirken von Gewohnheit, Vernunft, Anleitung, Religion etc. denn durch die natürliche Auslese.
Trotz einiger Kritik wurde Darwins Arbeit in der wissenschaftlichen Welt anerkannt. 1839 wurde er Mitglied der Royal Society und 1878 Mitglied im französischen Gegenstück, der französischen Akademie der Wissenschaften.
Darwin starb in Downe am 19. April 1882 und wurde in der Westminster Abbey bestattet. Im Jahr 2000 wurde sein Bild auf die britische 10-Pfund-Note gedruckt und ersetzte damit Charles Dickens. Ein Grund soll gewesen sein, dass sein eindrucksvoller Bart schwer zu fälschen wäre.
Werke
Narrative of the Surveying Voyages of Her Majesty’s Ships ‘Adventure’ and ‘Beagle’ between the years 1826 and 1836, describing their examination of the Southern shores of South America, and the ‘Beagle’s’ circumnavigation of the globe. (1839)
The Structure and Distribution of Coral Reefs. Being the First Part of the Geology of the Voyage of the Beagle. (1842)
Geological observations on Coral Reefs, Volcanic Islands, and on South America: being the Geology of the Voyage of the Beagle, under the Command of Capt. FitzRoy, during the Years 1832-36. (1842-1846)
Journal of Researches into the Natural History and Geology of the countries visited during the Voyage of H.M.S. ‘Beagle’ round the world, under the command of Captain Fitz-Roy, R.N. (1845)
A Monograph of the Fossil Lepadidae; or, Pedunculated Cirripedes of Great Britain. (1851)
A Monograph of the Sub-class Cirripedia, with Figures of all the Species. The Lepadidae; or, Pedunculated Cirripedes. (1851)
A Monograph on the Fossil Balanidæ and Verrucidæ of Great Britain. (1854)
Monograph of the Sub-class Cirripedia, with Figures of all the Species. The Balanidae (or Sessile Cirripedes); the Verrucidae, etc. (1854)
Die Entstehung der Arten (On the origin of species by means of natural selection., 1859)
On the various contrivances by which British and foreign orchids are fertilised by insects. (1862)
The variation of animals and plants under domestication. (1868)
The descent of man and selection in relation to sex. (1871)
The expression of the emotions in man and animals. (1872)
The movements and habits of climbing plants. (1875)
Insectivorous plants. (1875)
The effects of cross and self-fertilisation in the vegetable kingdom. (1876)
The different forms of flowers on plants of the same species. (1877)
The power of movement in plants. (1880)
The formation of vegetable mould, through the action of worms. (1881)
riesemann - 1. Dez, 10:43