Biographie
1971 Beginn des Studiums der Erziehungswissenschaft und der Fächer Soziologie und Psychologie an der Universität Tübingen
1978 Diplomprüfung in Erziehungswissenschaft, Studienrichtung Sozialpädagogik
1981 Promotion in Erziehungswissenschaft zum Dr. rer. soc. (Hauptberichterstatter: Prof. Dr. H. Thiersch; Mitberichterstatter: Profs. Dr. W. Hornstein, Dr. R. Lempp und Dr. L. Liegle)
1980-1983 Wiss. Ang. und Geschäftsführer am Institut für Erziehungswissenschaft I der Universität Tübingen
1983-1989 Akad. Rat im Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Universität Tübingen
seit 1989 Professor und Lehrstuhlinhaber für Sozialpädagogik am Fachbereich 12 "Erziehungswissenschaft und Soziologie" der Universität Dortmund, beurlaubt seit August 2002
seit 2002 Vorstand und Direktor des Deutschen Jugendinstituts e. V.
Arbeitsgebiete
Arbeits-, Forschungs- und Lehrschwerpunkte:
Theorie der Sozialen Arbeit
Sozialpädagogische Forschung
Verbändeforschung, Dritter Sektor
Wohlfahrts- und Jugendverbände, Jugendarbeit
Soziale Berufe (Ausbildung und Arbeitsmarkt)
Kinder- und Jugendhilfestatistik
Ehrenamt, Freiwilligendienste, Zivildienst
Bildung im Kindes- und Jugendalter
Gremien und Funktionen
1986-2003 Mitglied des Fachausschusses VIII Soziale Berufe und soziales Engagement des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Frankfurt a. M.
1990-1994 Mitglied des Vorstandes der Kommission Sozialpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft
1991-1994 Mitglied des Konvents der Universität Dortmund
seit 1993 Mitglied im Hauptausschuss des "Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge" in Frankfurt a. M.
1994-1996 Dekan des Fachbereichs "Erziehungswissenschaften und Biologie" der Universität Dortmund
1995-2002 Mitglied der Mitgliederversammlung des "Deutschen Jugendinstituts e. V.", München
1995-2001 Verantwortlicher Organisator des jährlichen Treffens "Universitäre Sozialpädagogik" der bundesdeutschen Universitäten
seit 1997 Leiter der "Dortmunder Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik"
1998-2002 Senator der Universität Dortmund
1999-2002 Mitglied der unabhängigen Sachverständigenkommission für den 11. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung
1999-2001 Sprecher des gemeinsamen DFG-Graduiertenkollegs "Jugendhilfe im Wandel" der Universitäten Bielefeld und Dortmund (zusammen mit Prof. Dr. Dr. h c. H.-U. Otto)
seit 2000 Mitglied im Vorstand der "Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe - AGJ"
2000-2004 DFG-Fachgutachter im Fach "Erziehungswissenschaft"
2000-2001 Mitglied im Nationalen Beirat zur Vorbereitung des "Internationalen Jahres der Freiwilligen"
2002-2003 Sprecher des Bundesweiten Netzwerks zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements
seit 2003 Mitglied des Fachausschusses "Jugend und Familie" des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge in Frankfurt a.M.
seit 2003 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim BMFSFJ
seit 2003 Vorsitzender der Sachverständigenkommission für den Zwölften Kinder- und Jugendbericht
seit 2004 Mitglied der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung
Herausgeberschaften und redaktionelle Tätigkeiten
seit 1984 Schriftleiter der "Sozialwissenschaftlichen Literatur Rundschau" (mit Prof. Dr. H. Sünker)
seit 1996 Mitglied des Beirats der Zeitschrift "Neue Praxis"
seit 1998 Mitglied in der Redaktion der Zeitschrift "Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit - TUP"
seit 1998 Herausgeber der Buchreihe "Grundlagentexte Sozialpädagogik/Sozialarbeit" im Juventa Verlag
seit 1998 Mitherausgeber der "Zeitschrift für Erziehungswissenschaft"
seit 1998 Herausgeber des Info-Dienstes "KomDat" der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik
seit 2001 Herausgeber der Buchreihe "Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfeforschung" im Juventa Verlag
riesemann - 12. Jun, 17:08
Ulrich Beck ist ein deutscher Soziologe.
Nach dem Umzug seiner Eltern in den Westen wuchs er in Hannover auf. Nach dem Abitur nahm er zunächst in Freiburg im Breisgau ein Studium der Rechtswissenschaften auf. Später erhielt er ein Stipendium und studierte Soziologie, Philosophie, Psychologie und Politische Wissenschaft in München. Dort promovierte er 1972 und legte sieben Jahre später die Habilitation im Fach Soziologie vor. Heute lehrt er an der Universität München und der London School of Economics and Political Science.
In seinen Arbeiten befasst er sich unter anderem mit den Themen Globalisierung und gesellschaftlichem Wandel und den damit verbundenen Folgen für die Menschen, zum Beispiel Individualisierung oder soziale Ungleichheit.
Er prägte die Begriffe Fahrstuhleffekt, Risikogesellschaft, soziologischer Kosmopolitismus und "Zweite Moderne".
Auszeichnungen
Schader-Preis, 2005 die höchstdotierte Auszeichnung für Gesellschaftswissenschaftler in Deutschland
Ausgewählte Schriften
"Entgrenzung und Entscheidung : was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?". Orig.-Ausg., 1.Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2004. 514 S. ISBN 3-518-41648-0
(mit Edgar Grande) "Das kosmopolitische Europa : Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne". Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2004. 419 S. Orig.-Ausg., 1.Aufl. ISBN 3-518-41647-2
"Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter : neue weltpolitische Ökonomie". Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2002. 472 S. ISBN 3-518-41362-7
"Ortsbestimmungen der Soziologie : wie die kommende Generation Gesellschaftswissenschaften betreiben will". 1. Aufl. - Baden-Baden : Nomos-Verl.-Ges., 2000. 174 S. ISBN: 3-7890-6622-2
"Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne". (1986)
Das ganz normale Chaos der Liebe (1990), (zusammen mit Elisabeth Beck-Gernsheim)
Politik in der Risikogesellschaft (1991)
Die Erfindung des Politischen - Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung (1993)
Riskante Freiheiten - Gesellschaftliche Individualisierungsprozesse in der Moderne (1994, gemeinsam mit Elisabeth Beck-Gernsheim)
Reflexive Modernisierung - Eine Debatte (1996, gemeinsam mit Anthony Giddens und Scott Lash)
Was ist Globalisierung? (1997)
Zum Einstieg / Als Überblick:
Freiheit oder Kapitalismus. Ulrich Beck im Gespräch mit Johannes Willms. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (2000)
Literatur
Volker Stork: "Die "Zweite Moderne" - ein Markenartikel? : Zur Antiquiertheit und Negativität der Gesellschaftsutopie von Ulrich Beck". Konstanz : UVK-Verl.-Ges., 2001. 246 S. ISBN 3-89669-802-8
Thomas Kron (Hrsg.): "Individualisierung und soziologische Theorie". Opladen : Leske + Budrich, 2000. 239 S. ISBN 3-8100-2505-4
Weblinks
Prof. Dr. Ulrich Beck (http://www.lsbe.soziologie.uni-muenchen.de/) am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München
Die Gesellschaft des Weniger. Ulrich Beck über den geplatzten Traum vom Aufstiegsland Deutschland (http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/26/0,3672,2247354,00.html)
Interview mit Ulrich Beck bei TELEPOLIS (http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6194/1.html#s2)
riesemann - 12. Jun, 16:51
Der Dalai Lama (Mongolisch: Ozean des Wissens [Tibetisch: Gyalpo Rinpotsche]) gilt als höchste weltliche und religiöse Autorität des buddhistischen Tibet. Er gehört der Gelug-Schule, einer der vier Hauptschulen des tibetischen Buddhismus (Vajrayana) an. Der gegenwärtige, 14. Dalai Lama ist Tenzin Gyatso.
Stellung des Dalai Lama
Dalai Lamas gelten als Bodhisattvas, Wesen die sich aus Mitgefühl entschlossen haben durch Reinkarnation wieder in das Leben oder »in die normale Existenz« einzutreten um anderen Wesen zu dienen, obwohl sie als Erleuchtete Wesen (Buddha-Natur) den Kreislauf der Wiedergeburt hätten verlassen können. Die Dalai Lamas gelten als Ausstrahlung Avalokiteshvaras (tib. Chen rezig), dem Bodhisattva des Mitgefühls.
Ein Lama ist gemäß der Tradition in Tibet ein Wesen, welches wiedergeboren wird. Angenommen wird, dass der vorherige, verstorbene Lama als Mensch reinkarniert und dann aufgefunden werden kann. Die Auffindung im Falle des vierzehnten Dalai Lamas geschah beispielsweise durch mehrere Mönche, die sich auf den Weg machten und Neugeborene im Land aufsuchten. Sie stellten den Kleinkindern mehrere Aufgaben, um herauszufinden, ob und welches Kind der wiedergeborene vorherige Dalai Lama sei. Der gefundene Junge erhielt einen neuen Namen, verließ seine Familie, erhielt eine herausragende spezifische vielschichtige Ausbildung und wurde schließlich auf Lebenszeit zum neuen Dalai Lama. Der Titel wurde erstmals 1578 vom mongolischen Fürsten dem 3. Dalai Lama (Sonam Gyatso) verliehen.
Als höchste Autorität hat der Dalai Lama bei vielen Tibetern einen gottgleichen Status. Der aktuelle Dalai Lama bezeichnet sich selbst aber als »einfachen Mönch« und tritt auf diese Weise allen Versuchen entgegen, seinen Status zu mystifizieren.
Politisch ist der jetzige Dalai Lama Teil der tibetischen Exilregierung und wird von der Volksrepublik China nicht anerkannt.
Demgegenüber hat die Person des vierzehnten Dalai Lamas im Westen neben seiner moralischen Autorität auch den Status eines Friedensbotschafters, was aus seinen Bemühungen herrührt mit allen (friedlichen) Mitteln auf die Lage in seinem Heimatland Tibet aufmerksam zu machen und seine Politik der Gewaltlosigkeit zu propagieren. Seine Bemühungen um Frieden und Gewaltverzicht wurden mit der Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 1989 gewürdigt.
Der Dalai Lama gibt als Gelug-Linienhalter auch im Westen in regelmäßigen Abständen Einweihungen in das buddhistische Kalachakra-Tantra. Kalachakra ist eine der Hauptübertragungen der Gelug-Linie. Die mit dieser Einweihung verbundene Praxis wird auch als »Kalachakra für den Weltfrieden« bezeichnet.
Inkarnationen des Dalai Lama
Gendun Drub (1391–1475)
Gendun Gyatso (1475–1542)
Sonam Gyatso (1543–1588)
Yonten Gyatso (1589–1617)
Ngawang Lobsang Gyatso (1617–1682)
Tsayang Gyatso (1683–1706)
Kelsang Gyatso (1708–1757)
Jamphel Gyatso (1758–1804)
Lungtog Gyatso (1806–1815)
Tsultrim Gyatso (1816–1837)
Khedrup Gyatso (1838–1856)
Trinle Gyatso (1856–1875)
Thubten Gyatso (1876–1933)
Tenzin Gyatso (1935–)
Literatur
Günther Schulemann: Die Geschichte der Dalai Lamas. Leipzig 1958, ISBN B0000BNKWH
Andreas Gruschke: [1] (http://www.gruzim.de/DL.htm) Diederichs kompakt - Dalai Lama. Kreuzlingen - München 2003, ISBN 3720524612
Andreas Gruschke: [2] (http://www.gruzim.de/TibBuddh.htm) Diederichs kompakt - Tibetischer Buddhismus. Kreuzlingen - München 2003, ISBN 3720523918
Dalai Lama: Die Lehren des tibetischen Buddhismus. Goldmann 1998, ISBN 3-442-21539-0
Dalai Lama: Dzogchen – Die Herzessenz der großen Vollkommenheit. Theseus, Berlin 2001, ISBN 3-89620-171
Dalai Lama: Einführung in den Buddhismus – Die Harvard-Vorlesungen. Herder 2000, ISBN 3-451-04946-5.
Karl-Heinz Golzio und Pietro Bandini: Die vierzehn Wiedergeburten des Dalai Lama. O.W.Barth Verlag, Bern-München-Wien 1997, ISBN 3-502-61002-9.
Colin Goldner: Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs. Aschaffenburg 1999, ISBN 3932710215.
Michael von Brück: Religion und Politik im tibetischen Buddhismus (1999).
S.H. der Dalai Lama wurde 1935 als Sohn einer bäuerlichen Familie in dem Dorf Taktser im Nordosten Tibets geboren. Im Alter von zwei Jahren wurde er entsprechend der tibetischen Tradition als Wiedergeburt seines Vorgängers, des 13. Dalai Lama, anerkannt.
Seine Ausbildung begann der Dalai Lama im Alter von sechs Jahren; sie umfaßte Dialektik, tibetische Kunst und Kultur, Grammatik und Sprachwissenschaft, Medizin sowie buddhistische Philosophie, das wichtigste Fach.
Mit 25 erlangte er den Titel eines Lharampa-Geshe, den höchsten Ausbildungsgrad der tibetischen Klöster. Das Abschlußexamen fand im Jokhang, dem zentralen Tempel von Lhasa, in Gegenwart von 20.000 Mönchsgelehrten statt.
Flucht ins Exil
1950 marschierten chinesische Truppen in Tibet ein. Ein Jahr später, als der Dalai Lama 16 Jahre alt war und die Lage in Tibet durch die chinesische Besatzung immer bedrohlicher wurde, mußte der Dalai Lama die Regierungsgeschäfte übernehmen.
1954 reiste er nach Peking, um mit Mao Tsetung und anderen chinesischen Führern, darunter Chou En-lai und Deng Xiaoping, Frieden auszuhandeln. Seine Bemühungen, eine friedliche Lösung des Konflikts herbeizuführen, wurden von der Politik Pekings in Osttibet durchkreuzt.
1959 kam es zum Volksaufstand. Der Widerstand der Tibeter gipfelte am 10. März 1959 in einem Volksaufstand in Lhasa, in dem die Tibeter massiv die Unabhängigkeit ihres Landes forderten. Die Demonstration wurde von chinesischer Seite brutal niedergeschlagen. Als das Leben des Dalai Lama selbst bedroht war, entschloß er sich zur Flucht nach Indien, das ihm politisches Asyl gewährte. Rund 90.000 Flüchtlinge, unter ihnen große Teile der intellektuellen Elite Tibets, folgten dem Dalai Lama ins Exil, wo heute rund 120.000 Tibeter leben.
Das tibetische Oberhaupt lebt seit 1960 im nordindischen Dharamsala, wo auch die tibetische Regierung im Exil ihren Sitz hat. Auf seine Initiative gründeten sich landwirtschaftliche Siedlungen und Handwerkszentren, in denen Flüchtlinge leben und sich selbst versorgen. Ein modernes Schulsystem gewährleistet eine umfassende Ausbildung in tibetischer Sprache, Geschichte, Religion und Kultur. Auch war der Dalai Lama an der Neugründung von mehr als 200 Klöstern im Exil beteiligt, in denen die Essenz des tibetischen Geisteslebens bewahrt wird.
1963 verkündete er den Entwurf einer demokratischen Verfassung für ein zukünftiges freies Tibet. Seitdem tritt der Dalai Lama als eifrigster Verfechter für die Demokratisierung der tibetischen Gesellschaft ein. Neben seinen Bemühungen für die Tibeter im Exil setzt er sich unermüdlich für eine gewaltlose Lösung des Tibetproblems ein. Auf seinen Reisen besonders auch in westlichen Staaten sucht er die Unterstützung für sein Ziel, auf dem Verhandlungsweg mit der chinesischen Führungsspitze eine Autonomie Tibets zu erlangen.
Dalai Lama erhält Friedensnobelpreis
1987 schlug der Dalai Lama einen Fünf-Punkte-Friedensplan als ersten Schritt zur Klärung des zukünftigen Status von Tibet vor, den er im Juni desselben Jahres in Straßburg weiter erläuterte. Er forderte dazu auf, Tibet zu einer Friedenszone zu erklären, die massive Umsiedlung von Chinesen nach Tibet zu stoppen, die Menschenrechte wiederherzustellen sowie das Verbot zu erlassen, in Tibet Atomwaffen oder Atommüll zu lagern. Außerdem fordert der Plan ernsthafte Verhandlungen über die Zukunft Tibets.
1989 erhielt das tibetische Oberhaupt für seine Bemühungen um die gewaltfreie Lösung des Tibetproblems den Friedensnobelpreis. In der Erklärung des Komitees heißt es: "Der Dalai Lama hat seine Friedensphilosophie auf der Grundlage von großer Ehrfurcht vor allen Lebewesen und der Vorstellung einer universellen Verantwortung, die sowohl die gesamte Menschheit als auch die Natur umfaßt, entwickelt."
Seitdem wird der Dalai Lama auf seinen Reisen auch von vielen Regierungschef offiziell empfangen. Führende Persönlichkeiten aus Politik, Religion, Wissenschaft und Wirtschaft suchen das Gespräch mit ihm.
Er wird immer wieder in viele Länder eingeladen, in öffentlichen Vorträgen vor tausenden von Menschen über seine Ideen für ein harmonisches Zusammenleben und eine friedliche Welt zu sprechen.
Frieden und Gewaltlosigkeit, so der Dalai Lama, sind nur durch die Entwicklung positiver innerer Qualitäten zu erreichen. Die Entdeckung der inneren Ressourcen ist der Weg zum Glück, wobei es im Kern um die Entwicklung grundlegender menschlicher Werte wie Mitgefühl und Toleranz geht:
"Mitgefühl ist seinem Wesen nach friedvoll und sanft, aber gleichzeitig ist es sehr kraftvoll. Mitgefühl ist das Zeichen echter innerer Stärke. Wir brauchen uns nicht einer Religion oder Ideologie anzuschließen. Es genügt, wenn jeder von uns seine guten menschlichen Eigenschaften entwickelt."
50 Jahre buddhistischer Mönch
Am 6. März 2004 brachten einige Tausend Tibeter in Dharamsala unter der Leitung der Wiedergeburt Kyabje Ling Rinpoches dem Dalai Lama eine Langlebenszeremonie dar. Das tibetische Oberhaupt feierte sein 50. Jahr als voll ordinierter Mönch. „Dies ist mein größter Stolz,“ kommentierte er dieses für ihn wichtige Ereignis. „Darüber hinaus habe ich keine Fähigkeiten, mit denen ich angeben könnte.“
riesemann - 5. Jun, 22:59
Rudi Rohlmann
1928-2004
Geboren am 15. Mai 1928 in Rheine (Westfalen);
Volksschule, Handelsschule, Verwaltungslehre, Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main. 1950 bis 1966 tätig im Fernlehrinstitut des Deutschen Gewerkschaftsbundes (1958 stellv., 1964 bis 1967 Institutsleiter). 1961 Prüfung für die Zulassung zum Hochschulstudium, dann Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. 1966 Examen Dipl.-Handelslehrer. Mitglied im Hessischen Landtag 1958 bis 1962 und 1965 bis 1982.
1967 bis 1970 Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Hessischen Landtag und stellv. Vorsitzender der SPD-Fraktion.
1968 bis 1971 Geschäftsführender Vorsitzender des Hessischen Landesverbandes für Erwachsenenbildung; 1971 bis 1981 Verbandsvorsitzender des Hessischen Volkshochschulverbandes.
1970 bis 1980 Vorsitzender im Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks. 1979 bis 1985 Geschäftsführender Vorsitzender des Deutschen Volkshochschul-Verbandes; seit 1984 Sachverständiger im Landeskuratorium für Erwachsenenbildung in Hessen. 1973 bis 1993 Redakteur der Hessischen Blätter für Volksbildung.
1987 Promotion zum Dr. phil. an der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main.
1987 bis 1993 im Vorstand des DVV. Mitglied im Vorstand des Bundesarbeitskreises „Arbeit und Leben"(DGB/vhs). Lehrbeauftragter der Verwaltungsfachhochschule Wiesbaden. Mitglied im Vorstand des Hessischen Volkshochschulverbandes.
1991 Veröffentlichung zur Geschichte der hessischen Erwachsenenbildung von 1945-1989.
1998 Veröffentlichung der Autobiographie: „Rückblick auf meine sieben Lebensjahrzehnte – Rekonstruktionen der Wegmarken meines Lebens"
riesemann - 21. Mai, 12:54
Franz Mockrauer
1889-1962
„M. ist am 10. August 1889 als Sohn eines jüdischen Bankiers in Berlin geboren. Er besucht das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Charlottenburg, macht dort 1908 sein Abitur und nimmt dann ein Studium der klassischen Philologie, Philosophie, Psychologie und Pädagogik an den Universitäten Freiburg, Kiel und Berlin auf, das er 1914 mit einer Promotion über Schopenhauer abschließt. Den 1. Weltkrieg macht er als Freiwilliger im Sanitätsdienst mit. 1918 übersiedelt er nach Dresden, arbeitet dort seit 1919 als Dozent an der Volkshochschule und wird von 1923-1933 ihr Leiter (Nachfolger von Fritz Kaphan).
1927 ist M. zusammen mit R. Buchwald, Th. Bäuerle u. a. maßgeblich an der Gründung des 'Reichsverbandes der Deutschen Volkshochschulen' beteiligt; er engagiert sich neben Buchwald in der Vorstandsarbeit (2. Vorsitzender) und hat 1931 bei einer gemeinsamen Arbeitstagung der 'Deutschen Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung' und des 'Reichsverbandes der Deutschen Volkshochschulen' in Prerow starken Anteil an der Formulierung der 'Prerower Formel'. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigriert M. zunächst nach Dänemark, wo er an verschiedenen Heimvolkshochschulen des Landes als Dozent lehrt, und dann im Frühjahr 1937 nach Schweden, wo er ebenfalls in der Erwachsenenbildung eine Tätigkeit findet. Er gehört dort dem 'Arbeitskreis demokratischer Deutscher' unter -+ Willy Strzelewicz sowie dem 'Sonntagskreis', einem philosophischen Diskussionszirkel in Stockholm um den Soziologen Walter A. Berendsohn, an und er arbeitet eng zusammen mit dem 'Samarbetskommitten för demokratiskt uppbyggnatsarbete' (SDU), einem Komitee für den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands. Nach Kriegsende nimmt M. 1946 im Auftrage des SDU am Wiederaufbau der Erwachsenenbildung in der Britischen Zone teil und kommt auch danach mehrfach als Vortragsredner nach Deutschland. Seinen Wohnsitz behält er in Stockholm, wo er am 7. Juli 1962 stirbt.
M.s Bedeutung für die Entwicklung der Erwachsenenbildung ist unter zwei Aspekten zu sehen: Zum einen hat sich M. im 'Reichsverband der Deutschen Volkshochschulen' für eine stärkere Institutionalisierung und organisatorische Verbindung vor allem der neutralen Volksbildungsbestrebungen eingesetzt. Eine dauerhafte Wirksamkeit der Erwachsenenbildung, die er durch eine konfessionelle und politische Bildungsarbeit zunehmend gefährdet sieht, ist für ihn grundsätzlich nur innerhalb der bestehenden Ordnung und durch gemeinsame Interessenvertretung gegenüber den Reichsbehörden sowie in Abgrenzung von den weltanschaulichen Einrichtungen garantiert. Zum anderen ist M. nach dem Kriege von Schweden aus am Wiederaufbau der Erwachsenenbildung beteiligt. Durch praktische Lehrtätigkeit, Vorträge und Publikationen hat er am Beispiel seiner Wahlheimat Schweden immer wieder darauf hingewiesen, wie durch die dortige demokratische Verankerung der Erwachsenenbildung eine Wechselwirkung von Bildung und Politik realisiert wird. Er hat damit die kulturpolitische Diskussion im Nachkriegsdeutschland nachhaltig beeinflusst."
G. Wolgast, in: Günther Wolgast, Joachim H. Knoll (Hrsg.), Biographisches Handwörterbuch der Erwachsenenbildung, Stuttgart 1986, S. 279-280
riesemann - 21. Mai, 12:52
Heiner Lotze
1900-1958
„L., geboren am 4.12.1900 in Leipzig, beginnt seinen Weg in der 'Neuen Schar', findet 1920 zur Heimvolkshochschule Dreißigacker und kommt über die Tätigkeit als Erziehungshelfer der Fürsorgeanstalt Steinmühle und über eine Nachschulzeit im Landerziehungsheim Haubinda (H. Lietz) zum Studium der Handelswissenschaften nach Frankfurt. Von der Persönlichkeit Eduard Weitschs beeindruckt, wird er 1926 Lehrer an der Heimvolkshochschule Sachsenburg und 1929 Leiter der Volkshochschule Jena, dort zugleich Geschäftsführer des Landesverbandes der Thüringischen Volkshochschulen. 1945 gründet er die Volkshochschule Hannover, die er bis 1950 leitet. Ebenfalls seit 1945 ist er Referent für Erwachsenenbildung im Niedersächsischen Kultusministerium und nimmt diese Aufgabe bis zu seinem Tode am 28.12.1958 wahr. Im November 1946 übernimmt er die Federführung im Fachausschuss der Erwachsenenbildung im Zonenerziehungsrat. 1947-1949 ist er der Herausgeber der Zeitschrift 'Freie Volksbildung' und 'Denkendes Volk' sowie der Schriftenreihe 'Bausteine der Volkshochschulen '.
L. hat versucht, den Geist der Erwachsenenbildung der Weimarer Epoche in der Zeit nach 1945 wieder zu beleben. Von der Jugendbewegung und dem Erlebnisreichtum der Heimvolkshochschule getragen, nahm er nach 1945 eine Schlüsselstellung ein, da er einerseits Initiator der Wiederbegründung der Volkshochschulen war, andererseits aus einem Ministerium heraus wirken konnte, an dessen Spitze mit Adolf Grimme ein Kenner und Befürworter der Erwachsenenbildung stand. L. war Autor der Programmschrift 'Geist und Gestalt der Volkshochschule' (1946). 'Geistige Wanderung', Frage nach dem Lebenssinn, der Selbstverständigung und der Selbstbesinnung waren für ihn die Orientierungsgesichtspunkte. Gedankliche Bewältigung der Welt wurde von ihm als das Eigentliche herausgestellt, hinter dem die Vermittlung handfester Kenntnisse zurücktrat. Methodisch folgte L. dem, was A. Mann und E. Weitsch mit ihrem Eintreten für die Arbeitsgemeinschaft und das Rundgespräch in den 20er Jahren intendiert hatten. Zugleich aber plädierte er für die Volkshochschule als eine 'öffentliche Schule', die hauptberuflich geleitet und kommunal unterstützt werden sollte. Bis zur Währungsreform ist L. auch über die Britische Zone hinaus durch Veröffentlichungen und Zeitschriften dafür eingetreten, der Erwachsenenbildung breite Resonanz zu verschaffen. Nach der Währungsreform konzentrierte sich seine Energie auf die Förderungspolitik in Niedersachsen. Hier zeigt er sich als der konsequenteste Verfechter des Heimvolkshochschulgedankens (Gründung der Goehrde schon 1945, die von Hustedt 1948). Auch die Gründung von 'Arbeit und Leben' als Arbeitsgemeinschaft von Volkshochschule und Gewerkschaftsbund steht im Zusammenhang seiner Politik; ferner geht auf sein Bemühen zurück, dass sich zuerst in Niedersachsen eine Landesarbeitsgemeinschaft für ländliche Erwachsenenbildung etabliert.
Schließlich bereitete er auch die Einrichtung eines Sekretariats für Seminarkurse an der Universität Göttingen als Keimzelle für die sehr viel späteren Kontakt- und Zentralstellen für wissenschaftliche Weiterbildung an den Hochschulen vor. Alle diese Aktivitäten verstand L. als Versuch, etwas von den Vorstellungen der 20-er Jahre über eine gesellschaftsbezogene Allgemeinbildung zu erhalten und weiterzuentwickeln. Das hinderte ihn nicht an einem realistischen Blick auf die Notwendigkeit konkreter Lebenshilfe, die nach 1948 das Angebot der Volkshochschulen bestimmte. Er hat sie im Rahmen des in den 50er Jahren finanziell Möglichen deutlicher gefördert, als es damals in den meisten Bundesländern geschah.
H. Tietgens, in: Günther Wolgast, Joachim H. Knoll (Hrsg.), Biographisches Handwörterbuch der Erwachsenenbildung, Stuttgart 1986, S. 245-246
riesemann - 21. Mai, 12:52
Fritz Laack
1900-1990
„L., in Berlin am 1. September 1900 geboren, studiert nach dem Abitur am Berliner Gymnasium 'Zum grauen Kloster' zunächst in Berlin, dann in Freiburg i. Br. und schließlich wieder in Berlin Rechts- und Staatswissenschaften. 1924 beschließt er sein Studium mit einer Dissertation über die Theaterwirtschaft.
Von 1925-1927 ist L. als hauptamtlicher Lehrer an der Heimvolkshochschule Rendsburg tätig, an der er nach seiner Berufung 1927 zum Geschäftsführer der 'Deutschen Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung' in Berlin auch weiterhin noch nebenamtlich mitarbeitet. Sein neues Tätigkeitsgebiet in Berlin umfasst Forschungs- und Lehraufgaben der Volksbildung. Bis 1933 wirkt L. an der 'Deutschen Schule', die als eine Einrichtung des Hohenrodter Bundes u. a. die Aus- und Weiterbildung der Volksbildner betreiben soll. Seine Tätigkeit wird durch die Nationalsozialisten beendet, die die Schule wegen 'Staatsfeindlichkeit' schließen. L. muss auch die Redaktion der Zeitschrift 'Freie Volksbildung', die er zusammen mit Eduard Weitsch als zentrales Organ für die Erwachsenenbildung herausgegeben hat, aufgeben. Aus Sicherheitsgründen geht er zunächst ins Ausland, kommt aber schon bald nach Deutschland zurück und verdient sich in der Folgezeit seinen Lebensunterhalt in Sozial- und Verwaltungsabteilungen der chemischen Industrie.
Im Herbst 1947 kehrt er nach Rendsburg zurück und baut die 1933 geschlossene Heimvolkshochschule wieder auf. 1951 wird er als Leiter der Abteilung 'Kultur, Erwachsenenbildung, Jugend und Sport' in das Kultusministerium des Landes Schleswig-Holstein berufen. Zu seinen Aufgaben zählen die Kultur- und Kunstpflege, das Rundfunkwesen, die Erwachsenenbildung, Jugendpflege und Sport sowie die Vertretung des Landes Schleswig-Holstein im Kunstausschuss der Kultusministerkonferenz. Außerdem leitet er von 1954-1956 die Filmbewertungsstelle der Länder in Wiesbaden. 1965 wird er als Ministerialrat pensioniert. Er verlegt seinen Wohnsitz zunächst für einige Jahre nach Wiesbaden und zieht dann zu seinen Kindern um nach Mülheim an der Ruhr.
L. hat schon in jungen Jahren die Praxis der Erwachsenenbildung in ihrer dichtesten Möglichkeit einer Heimvolkshochschule kennen gelernt; er hat dann in seiner Funktion als Geschäftsführer der 'Deutschen Schule' die Arbeit des 'Hohenrodter Bundes' organisatorisch, konzeptionell und wissenschaftlich begleitet. Seine Tätigkeit in Rendsburg nach dem 2. Weltkrieg ist beispielgebend; als Ministerialbeamter hat er aus der Fülle seiner praktischen Erfahrungen vor allem die Entscheidungen der Kultusministerkonferenz zur Erwachsenenbildung wesentlich beeinflusst.
L. hat seine eigene Arbeit immer kritisch kommentiert, besonders aber an historischen Beispielen dargestellt und gemessen. So entsteht sein Buch 'Auftakt freier Erwachsenenbildung', das einen frühen Versuch politischer Bildungsarbeit in Rendsburg 1842-1850 beschreibt; so bringt er seine Erfahrungen mit der Heimvolkshochschule in das Buch 'Heimvolkshochschulen in der Bildungsgesellschaft' ein. Vor seinen Kenntnissen der europäischen Erwachsenenbildung prüft er die amerikanische Situation des Bildungswesens und fasst schließlich seine Hohenrodter Erfahrungen in dem Buch 'Zwischenspiel freier Erwachsenenbildung' zusammen."
K. Meissner, in: Günther Wolgast, Joachim H. Knoll (Hrsg.), Biographisches Handwörterbuch der Erwachsenenbildung, Stuttgart 1986, S. 213
riesemann - 21. Mai, 12:51
Ingeborg Horn-Staiger
1928 - 1997
„Am 23. März 1997 verstarb unsere Redaktionskollegin Dr. Ingeborg Horn-Staiger in Darmstadt. Sie wurde 1928 in Königsberg geboren, machte 1946 das Abitur in Jena und studierte hier an der Friedricht-Schiller-Universität Geschichte, Deutsch, Philosophie und Pädagogik. 1952 mit einer historiographischen Dissertation zum Dr. phil. promoviert. Der Friedrich-Schiller-Universität in Jena blieb sie verbunden als studentische Hilfskraft und später wissenschaftliche Assistentin mit Lehrauftrag bei ihrem Lehrer Prof. Dr. Karl Griewank, dessen letztes Manuskript sie nach seinem Freitod herausgab (Weimer 1955, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1969). Nach ihrer Flucht aus der damaligen DDR war sie seit 1956 in Göttingen und seit 1959 in Kassel in der Erwachsenenbildung tätig.
Im Jahr 1964 nahm Ingeborg Horn-Staiger ihre hauptberufliche Tätigkeit an der Volkshochschule der Stadt Darmstadt auf. Den Aufbau und Ausbau dieses Instituts, das sie von 1972 bis 1990 leitete, hat sie in ihrem Buch ‚35 Jahre Volkshochschule der Stadt Darmstadt’ beschrieben, das 1981 erschienen ist. Ihre letzte Edition zur Geschichte der Volkshochschule in Darmstat aus dem Jahre 1994 hat – in Anlehnung an das Manuskript des Journalisten Klaus-Peter Reiß – den Titel ‚Erwachsenenbildung in Darmstadt als Element der Stadtkultur’ ...
Doch weit über Darmstadt hinaus hat ihr ehrenamtliches Engagement in vielen Bereichen der Erwachsenenbildung eine durch hohe andragogische Fachkompetenz ausgezeichnete bereichernde Wirkung entfaltet. Von 1968 bis 1992 war sie, mit einer Unterbrechung in den Jahren 1981-1986, Mitglied des Vorstands des Hessischen Volkshochschulverbandes (bzw. bis 1971 des Hessischen Landesverbandes für Erwachsenenbildung). Von diesem Gremium wurde sie 1970 mit dem Vorsitz des Pädagogischen Ausschusses betraut. Unter ihrer Leitung konnte der Ausschuss ‚Neue Grundsätze für die Volkshochschularbeit’ erarbeiten, die zu damaliger Zeit eine Klärung des Selbst- und Aufgabenverständnisses der Volkshochschulen herbeiführten ...
Die unter ihrer Moderation entstandenen pädagogischen Konzeptionen wurden auch in anderen Bundesländern diskutiert und in der Praxis erprobt. Als Mitglied im Pädagogischen Ausschuss des Deutschen Volkshochschul-Verbandes hat sie immer wieder Anregungen für eine zeitgemäße Erwachsenenbildungsarbeit gegeben. Eines der wichtigsten Dokumente, dessen Entstehen sie gefördert, begleitet und mitformuliert hat, war das Papier zur ‚Synthese von allgemeiner, politischer und beruflicher Bildung’, über das sie in der Verbandsversammlung des Hessischen Volkshochschulverbandes 1973 berichtete.
Eines ihrer Hauptanliegen war die Verbindung von praktischer Bildungsarbeit einerseits und wissenschaftlicher Forschung und Lehre anderseits. Sie selbst hat ihren Beitrag dazu geleistet, indem sie während vieler Semester Lehraufträge an der Technischen Hochschule Darmstadt wahrgenommen hat.
Herausgeber und Redaktion der ‚Hessischen Blätter für Volksbildung’ sind dankbar für die Mitarbeit von Ingeborg Horn-Steiger in der Redaktionskonferenz, der sie von 1968 bis zu ihrem Tode angehörte. Auch diese Mitgliedschaft ist ein Ehrenamt und daneben eine Aufgabe, die viel Mühe erfordert.
Eine große Anzahl der Vierteljahreshefte hat sie mit eigenen Schwerpunktthemen selbst redigiert. Ihre hohe Kompetenz als Historikerin kommt nicht nur in den vielen Buchbesprechungen zum Ausdruck; sie zeigte sich auch in den von ihr betreuten Themen wie ‚Die Identität der Deutschen in Ost und West’ (4/1989), ‚Einheit und Vielfalt – zur Weiterbildung in den neuen Bundesländern’ (3/1993) und schließlich ‚50 Jahre Hessischer Volkshochschuleverband’ (2/1996)."
Auszug aus einem Nachruf. In: Hessische Blätter für Volksbildung 2/1997, S. 180-181
riesemann - 21. Mai, 12:50
Jean Hartmann
„Als zur Vorstandssitzung des Deutschen Volkshochschul-Verbandes am 8.3.1991 die Nachricht gelangte, dass 2 Tage vorher Jean Hartmann gestorben sei, gab es nur 2 Anwesende, die sich seiner noch durch direkte Kontakte erinnern konnten. Daran macht sich der schnelle Generationswechsel ebenso bemerkbar wie die länger werdende Lebenszeit von Pensionären. Immerhin war Jean Hartmann in den ersten zehn Jahren des DVV von 1953-1963 Mitglied seines Vorstandes und bis 1965 beim Berliner Senat zuständig für die Erwachsenenbildung. Von dieser wurde zu seiner Zeit noch wenig Aufgebens in der Öffentlichkeit gemacht. Umso wichtiger war ein Wirken in der Stille. Soweit es von Jean Hartmann ausging, ist es nicht zuletzt der Anfangsentwicklung der Pädagogischen Arbeitsstelle zugute gekommen. Seine Genauigkeit kam nicht nur der Verwaltungsarbeit zu statten. Seine Liebe zum Detail kennzeichnete vielmehr auch seine Beiträge zur Diskussion des Aufgabenverständnisses von Erwachsenenbildung. Sie fand ihren Niederschlag in eigenen Aufsätzen und kritischen Kommentaren ebenso wie sie in der Sorgfalt zum Ausdruck kam, mit der Jean Hartmann die ‚Berliner Arbeitsblätter für Volkshochschule’ als Herausgeber geplant und redigiert hat. In den Jahren 1955-1963 galt diese Zeitschrift als Ort der Reflexion, mit der einer Wissenschaft von der Erwachsenenbildung vorgearbeitet werden konnte.
Vor allem aber hatte Jean Hartmann damit in den 50er Jahren den Blick für die Debatten im internationalen Raum geöffnet. Das wird an einer Sammlung seiner Aufsätze besonders deutlich, die 1964 im Carl Heymanns-Verlag erschienen ist.
Der Titel ‚Der vergessene Schlussstein’ signalisiert den Stellenwert, den Jean Hartmann der Erwachsenenbildung im Prozess der Menschenbildung beigemessen hat. Dabei finden sich schon in früher Zeit bei ihm Gedanken, die noch heute als allgemein akzeptierte Basis des Selbstverständnissen der Volkshochschulen gelten. So ist da von Erfahrungsbezug die Rede und vom Wert der Kleingruppenarbeit, von der Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Sprache und Denken sowie der Arbeit mit dem Buch und von der Notwendigkeit eines Erwachsenenbildungsdiploms im Interesse der Professionalität, die sich in der Fähigkeit zur didaktischen Reduktion bewähren sollte. Jedoch haben wir allen Anlass uns der Mahnung von Jean Hartmann zu erinnern, dass ‚zahlreiche Diskussionen der Gegenwart nur unzulänglich verstanden werden können, wenn man nicht ihren geschichtlichen Ursprung kennt’."
H. Tietgens, in: Hessische Blätter für Volksbildung 2/1991, S. 184-185
riesemann - 21. Mai, 12:49
Hellmut Becker
1913-1994
„Als Sohn des Islamforschers und späteren preußischen Staatssekretärs und Kultusministers C. H. Becker am 17.5.1913 in Hamburg geboren. Rechtsanwalt mit Schwerpunkt in der Rechtsberatung für Bildungs- und Forschungsinstitutionen. 1956 zum Präsidenten des Deutschen Volkshochschulverbandes (DVV) gewählt, 1962 Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, zugleich Honorarprofessor für Soziologie des Bildungswesens an der Freien Universität. Mitglied und stellvertretender Vorsitzender der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates. Nach dem Ausscheiden als Präsident des DVV, 1974 Vorsitzender des Kuratoriums der Pädagogischen Arbeitsstelle des DVV. Bis über das 70. Lebensjahr hinaus weiterhin in zahlreichen Beratungsgremien wissenschaftlicher und kultureller Institutionen tätig, so z. B. für die Landerziehungsheime, das Goethe-Institut, verschiedene Stiftungen oder das International Institute for Educational Planning der UNESCO in Paris.
B. hat durch die Überzeugungskraft seiner Argumentation wesentlich dazu beigetragen, dass Erwachsenenbildung zu einem Thema der öffentlichen Diskussion geworden ist. Auf seine Anregung hin hat der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen Erwachsenenbildung in seine Gutachtenreihe aufgenommen. Im Zusammenhang mit diesem Gutachten hat B. den Disput um das Verhältnis von freier und gebundener Erwachsenenbildung in klärende Bahnen gelenkt, ohne die verbindende Funktion der Volkshochschulen zu verleugnen, die als eine Einrichtung der Erwachsenenbildung 'nicht Funktion von Verkündung, nicht Funktion von Interessen und nicht Funktion von Produktion' ist, den Pluralismus in sich selbst verwirklichen muss. Mitte der 60er Jahre veranlasste B. den DVV, die Wandlung des Aufgabenverständnisses, die sich mit der 'realistischen Wende' vollzogen hatte, in einer Programmschrift zu dokumentieren. Durch seine Mitwirkung im Bildungsrat trug er entscheidend dazu bei, dass in dessen 'Strukturplan' Weiterbildung als gleichberechtigter quartärer Bildungsbereich anerkannt und eine Balance von Qualifikationslernen und Identitätslernen konzipiert wurde. Ein Bausteinsystem sollte zudem Kooperation und Transparenz gewährleisten. Zu allen Zeiten war B. darauf bedacht, die bundesrepublikanische Erwachsenenbildung für internationale Entwicklungen zu öffnen. Offenheit für das Innovative und traditionelles Kulturbewusstsein wusste er miteinander zu verbinden. Planung und Spontaneität waren für ihn kein Widerspruch. Sein treffsicherer Problemzugriff hat immer wieder erhellend und motivierend gewirkt. Er trat nachhaltig dafür ein, dass die 'Freiheit als geistige Entwicklung ... vom einzelnen vollzogen' werden muss, dass sie aber auch der materiellen Stütze bedarf.
Am Anfang seiner zahlreichen Reden zur Erwachsenenbildung stand, dass 'die Aufgabe der Erwachsenenbildung ... die Beantwortung der Not der Menschen in der modernen Gesellschaft' ist. 25 Jahre später auf dem Volkshochschultag 1981 konzentrierte sich für ihn die Reihe der Nöte, deren Überwindung er 1956 als Hauptaufgabe der Erwachsenenbildung begründet hatte, auf die Varianten der Dialektik, mit denen Menschen sich in der gegenwärtigen Situation auseinandersetzen müssen. 'Weiterbildung hat daher die doppelte Aufgabe, aufzuklären und mit den Folgen der Aufklärung fertig zu werden'."
H. Tietgens, in: Günther Wolgast, Joachim H. Knoll (Hrsg.), Biographisches Handwörterbuch der Erwachsenenbildung, Stuttgart 1986, S. 42-43
riesemann - 21. Mai, 12:48
Charlotte Selver
I. Neu Sehen
Mit Charlotte Selver arbeiten: Eine persönliche Geschichte
Als Charlotte Selver im Oktober 1938 nach Amerika kam war sie allein und unbekannt. Sie erzählt: “Ich kam mit nichts, nichts ausser dieser Arbeit.” Die ‘Arbeit’ von der sie spricht, wurde von ihren Lehrern in Deutschland entwickelt: von Elsa Gindler, die ursprünglich harmonische Gymnastik unterrichtet hatte und von Heinrich Jacoby, dem innovativen Musiker und Pädagogen. Diese gaben der ‘Arbeit’ nie einen formellen Namen. Nach vielen Versuchen, die richtigen Worte zu finden, entschied sich Charlotte Selver für ‘Sensory Awareness’. Diese Bezeichnung wurde dann bald allgemein gebräuchlich, doch Sensory Awareness als spezifische ‘Disziplin’ wie sie Charlotte Selver anbietet, wurde Teil der Geschichte des ‘Human Potential Movement’ und der daraus sich entwickelnden Arbeitsansätze in den USA.
Bevor ich mehr aus dem Leben Charlotte Selvers erzähle, möchte ich von meiner eigenen Begegnung mit Charlotte berichten und von den 35 Jahren unserer Bekanntschaft. Ich hoffe Ihnen dadurch einen mehr persönlichen Eindruck von dieser Frau und ihrer Arbeit vermitteln zu können. Jeder der tausenden von Menschen, die mit ihr studiert haben, hätte wohl seine ganz eigene Geschichte zu erzählen, doch kann ich nur von meiner eigenen Erfahrung sprechen.
Ich war 48 Jahre alt als ich Charlotte zum ersten mal begegnete. Ich litt unter Arthritis und schrecklicher Migräne. Wenn ich frühmorgens die Treppen unseres Hauses hinuntersteigen wollte, konnte ich das nur Stufe um Stufe tun, weil die Blutzirkulation in meinen Fussgelenken so schlecht war, dass diese ganz steif waren. Ich lebte ganz im Kopf und es kam mir nie in den Sinn, dass diese körperlichen Symptome mit meiner “Beeile dich! Mach schon – und mach’s richtig!”–Haltung zu tun hatten. Mein ganzes Wesen war von dieser Haltung durchdrungen.
Doch dann, als ich mit Charlotte Stunden zu nehmen begann und mich ganz einfach dem Ruhen, Bewegen, Sehen, Hören, Atmen und andern Aspekten des Menschseins widmete, begannen sich diese Verspannungen zu lösen, und der ganze Organismus kam in ein besseres Gleichgewicht und funktionierte gesünder. Eines Tages wurde mir plötzlich bewusst, dass ich schon lange keine Migräne mehr gehabt hatte und auch mit Leichtigkeit die Treppen hinunterrannte. Das war wunderbar, doch es wurde noch besser als ich meine Mitmenschen und meine Umwelt neu und anders wahrzunehmen begann, als ich im Sehen, Hören und in meinen Reaktionen auf sie offener und spontaner wurde.
Die Fähigkeit, Dinge zu sehen, nicht mit den Augen nach ihnen zu ‘greifen’, sondern sie hineinzulassen und bis in meine Tiefen zu fühlen – zu wissen, dass wir miteinander verbunden sind – das war wahrscheinlich die bedeutungsvollste Entdeckung. Dies lernte ich nicht nur durch Charlottes koan-artige versuche im Unterricht, sondern auch ganz einfach durch ihre Gegenwart. Das gehörte ja zusammen: Charlotte und ihre Arbeit.
Meine erste Begegnung mit ihr war reiner Zufall – wenn denn solche Dinge je zufällig geschehen. Im Jahre 1957 las ich Alan Watts’ Buch The Way of Zen (Watts, Alan. The Way of Zen. New York, Pantheon Books 1961). Ich hatte zuvor nie von Watts oder Zen gehört und fand das Buch ziemlich wunderlich. Er schrieb, die Befreiung vom Leiden komme durch: “Nicht-denken, nicht-reflektieren, nicht-analysieren, nicht-kultivieren, Absichtslosigkeit, geschehen lassen.” “Nicht-denken?! Geschehen lassen?!” Dies widersprach allem was, ich zu glauben gelernt hatte und doch berührte es etwas in mir.
Watts schrieb: “Zen ist vor allen Dingen eine Erfahrung und als solche nonverbal und einer rein literarischen und akademischen Vorgehensweise unzugänglich. Um zu verstehen was Zen ist – und vor allem auch was Zen nicht ist – muss man damit praktisch experimentieren, um die wirkliche Bedeutung, die den Worten unterliegt, zu entdecken.” Ich wusste das damals nicht, doch er hätte ebensogut von Sensory Awareness sprechen können.
Im Jahre 1965 kam Alan Watts nach New York um mit einer Frau namens Charlotte Selver in deren Studio an der 73. Strasse einen Kurs zu geben. Dort angekommen wurde ich von einer kleinen Frau mit einem freundlichen Lächeln und geraden, dunklen Harren, das sie hinter die Ohren gestrichen trug, empfangen. Während der ersten Stunde sprach Alan Watts in seiner bestechenden Weise. Danach arbeitete Charlotte mit der Gruppe. Ich kann mich nicht daran erinnern was sie sagte oder was wir taten. Doch erinnere ich mich, wie unangenehm es mir war auf dem Boden sitzen zu müssen, Dinge zu tun die keinen Sinn machten und dann von andern Leuten zu hören, welch überraschende Entdeckungen sie während der “Experimente” machten. Ich kam mir ziemlich dumm vor – und wurde neugierig.
Sechs Monate später besuchte ich, etwas widerstrebend, einen Wochenend-Kurs mit Charlotte. Er begann am Freitag abend mit einem Vortrag zu Lichtbildern. Wir sassen auf Klappstühlen und als der Vortrag vorbei war bat uns Charlotte, uns unseres Sitzens gewahr zu werden. Meine unmittelbare Reaktion war Unsicherheit: Wie sass man richtig, was wollte sie sehen, was war akzeptabel in diesem Kurs? Sie erklärte uns nicht wie wir sitzen sollten, sondern fragte nur: “Wie fühlt sich ihr Sitzen an?” Ich fühlte nichts von meinem Sitzen – existierte überhaupt kaum als fühlendes Wesen – ich hatte nur Gedanken darüber. Und dann sagte sie: “Wenn sie sitzen, dann sitzen sie. Wenn sie sich anlehnen, dann lehnen sie an.” Das war wie ein grosser Lichteinbruch: “Es kommt nicht darauf an was du tust, doch tu es ganz, mit ganzem Wesen – und sei dir bewusst was du dabei fühlst.”
Das war der erste Riss in der “dicken Lackschicht” der Konditionierung, wie Charlotte dies nannte. Diese Verspannungen waren sowohl Ursache wie auch folge meiner dauernden Furcht etwas falsch zu machen, meiner Sorge darum was die Leute von mir dachten etc. Dies war der Beginn meiner langen Initiation in eine neue Lebensweise – und der Beginn meiner langen Verbindung mit Charlotte.
Was Charlotte in den Stunden tat – wie sie Versuche anleitete, ihr Rhythmus, wie die Versuche und die darauffolgenden Reporte zum nächsten Versuch führten und zur Entwicklung der ganzen Stunde, ja des ganzen Kurses – all das erschien mir wie Magie. Doch wurde es noch erstaunlicher als ich zu verstehen begann, dass diese Magie ganz auf den natürlichen Möglichkeiten jedes Organismus beruhte: zu sehen und offen und reagierfähig zu sein.
Zuerst dachte ich, Charlotte könne meine Gedanken lesen. Viel später realisierte ich, dass sie nicht meine Gedanken, sondern mich las. Sie sah wie ich stand, wie ich sass, wie ich mich bewegte. Sie sah meinen Gesichtsausdruck und meinen Blick, doch auch den “Ausdruck” meines Rückens, meiner Zehen, des Atems – kurz, sie sah mich. Natürlich waren meine Gedanken Teil meines Wesens und so erschien es oft, dass sie meine Gedanken las und direkt auf diese reagierte, wenn sie in Wirklichkeit spontan auf das reagierte, was sie in meiner ganzen Person fühlte. Es wurde mir erst möglich zu verstehen wie Charlotte uns sah, nachdem diese Lackschicht von Verspannungen sich etwas gelöst hatte und ich dadurch mehr bereit wurde, Impressionen in Ruhe zu empfangen. Dann begann ich meine Mitmenschen und meine Umgebung neu zu sehen – nicht als Spiegelbilder meines Egos, sondern mit Interesse und als etwas, das nicht getrennt von mir existierte. Ich erkannte, dass Sehen ein innerlicher Vorgang war: Aussen und innen waren eins. Diese neue Art andere zu sehen war auch eine neue Art mich selbst zu sehen – und umgekehrt.
Charlotte sass während der Stunden gewöhnlich im Schneidersitz auf dem Boden, doch einmal sass sie auf einem Stuhl. Ich sah sie wirklich. Dies war das erste Mal, dass ich bewusst jemanden einfach sitzen sah. Ihr Auf-dem-Stuhl-sitzen war so ruhig und unkompliziert – so nichts besonderes – wie das Stehen des Stuhls auf dem Boden. Danach konnte ich sehen, dass es mit ihrem Gehen, Liegen und Stehen dasselbe war – es war alles ‘nichts Besonderes’. Ich kann, was ich in ihrem Stillsein und ihren Bewegungen fühlte, nicht anders beschreiben. Sobald ich mehr beschreibende Worte benutze (leicht, federnd, jugendlich, kraftvoll, ruhig, in Kontakt mit dem Boden – was auch immer), hebe ich etwas Besonderes heraus, einen bestimmten Aspekt einer unteilbaren Ganzheit. Doch ist es die Einfachheit, die ‘Nicht-besonderheit’, die für mich so besonders war. Als ich sie sitzen sah, veränderte sich etwas in mir. Ich fühlte ihre Anwesenheit und wurde selber mehr anwesend.
Im Unterricht arbeiteten wir oft zu Zweien. Manchmal liessen wir uns von einer Partnerin den Kopf anheben. Anfangs war ich immer etwas besorgt darum, ob ich wohl die Bewegung verhinderte, sie führte oder wirklich meinen Kopf bewegen liess. Gleichermassen wenn ich den Kopf meiner Partnerin bewegte: ich urteilte oft darüber ob sie ihren Kopf festhielt, die Bewegung führte oder erlaubte. Ich dachte, dass wir am Kopf arbeiteten und dass man das richtig oder falsch tun konnte.
Einmal, während eines solchen Versuches, fing ich nicht gleich an sondern sass für einen Moment einfach da und sah meine Partnerin vor mir liegen. Und ich sah, dass der Kopf Teil der ganzen Person war. Und als ich meine Hand unter ihren Kopf gleiten liess und ihn langsam zu bewegen begann fühlte ich, dass er mit dem Rest verbunden war. Ich hatte die überwältigende Erkenntnis, dass ich, indem ich ihren Kopf hielt, meine Partnerin hielt. Und wenn ich ihren Kopf bewegte, bewegte ich sie. Wenn ich jemanden an einer Stelle berührte, wirkte sich das auf die ganze Person aus – und auch auf mich in meiner Ganzheit.
Jahre später, 1987, während der letzten Stunde eines ‘Leaders Workshops’ in St. Ulrich in Deutschland: Nach drei Wochen intensiver Arbeit an ‘uns in Beziehung zur Welt’ stand Charlotte vor uns und bat uns ihren Bewegungen zu folgen und in uns zu fühlen, wie eine andere Person sich bewegt. Wir sollten versuchen dies in uns geschehen zu lassen. Die Zeit blieb stehen als sie ruhig eine Hand bewegte, einen Arm, ihren Kopf, einen Fuss, ein Bein – und uns so zu einer entsprechenden Bewegung einlud. In meiner Beschreibung sage ich, dass sie einen Fuss bewegte, eine Hand, ihren Kopf, doch in Wirklichkeit war es Charlotte die sich bewegte – in ihrer Hand, in ihrem Kopf. Sie stand einfach da oder bewegte sich, und niemand konnte sagen wo die Bewegung begann oder aufhörte – in Charlotte oder in mir. Ich sah was ich sah und fühlte was ich fühlte und reagierte wie ich reagierte. Es war eine Art von Befreiung. Ich schien einen Kreis vollendet zu haben: “Nicht-denken, nicht-reflektieren, nicht-analysieren, nicht-kultivieren, Absichtslosigkeit, geschehen lassen.”
Charlotte fragte mich einmal, was mich dazu motiviert habe für Sensory Awareness alles Andere aufzugeben, die Charlotte Selver Foundation (jetzt Sensory Awareness Foundation, SAF) zu gründen und sie so lange zu führen, selber die Arbeit anzubieten, darüber zu schreiben und Material zu redigieren. Ich konnte ihr damals keine Antwort geben. Es erschient mir jetzt, dass ein guter Teil meines Interesses an der Arbeit nicht nur durch die Versuche kam, die Charlotte uns anbot, sondern auch davon, Charlotte in ihrer Arbeit zu erleben. Ich wollte was ich sah. Zuerst wollte ich es nur für mich selbst, doch dann, als mir bewusst zu werden begann wie die Arbeit mich veränderte – meine psycho-somatische Verfassung im Ganzen, meine Haltung gegenüber meiner Selbst und dem Rest der Welt – wuchs in mir das Verlangen, diese Arbeit bekannt und für jedermann zugänglich zu machen.
Die SAF hat seither Kurse angeboten, eine Bibliothek und ein Archiv eingerichtet und dient als Informationsstelle für Sensory Awareness. Ihre Hauptaufgabe jedoch ist es Publikationen über die Arbeit herauszugeben: wie die Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby entdeckt und entwickelt wurde, was Elfriede Hengstenberg und Emmi Pikler dazu beitrugen, wie die Arbeit von vielen ergebenen SchülerInnen – einschliesslich Charlotte Selver – fortgeführt wurde. Nicht zuletzt soll die Stiftung auch die Nachfolge dokumentieren.
Mit der Zeit wurden einige von Charlottes SchülerInnen dazu autorisiert, die Arbeit weiterzugeben und 1985 wurde die ‘Sensory Awareness Leaders Guild’ (SALG) gegründet. Zu dieser Zeit offerierte Charlotte eine Reihe von ‘Leaders Workshops’ in denen diejenigen, die selber Kurse gaben, Gelegenheit hatten tiefer in die Arbeit einzudringen und auch Arbeitsgemeinschaften zu leiten. Da hatten wir Gelegenheit einen anderen Aspekt von Charlotte kennenzulernen: sie wurde zur Schülerin, gab sich völlig einem angebotenen Versuch hin und teilte uns dann ihre Erfahrungen mit – und diese überraschten uns oft.
Sie hatte uns oft davor gewarnt in unseren Köpfen Reporte zu fabrizieren während wir etwas versuchten. Wir sollten ganz für das Geschehen im Moment dasein. Doch eines Tages, als sie als Schülerin teilnahm, berichtete sie mit einem Schmunzeln, dass sie während des ganzen Versuches sich selbst mit grossem Genuss darüber gerichtet hatte.
Sie sagt oft, dass wir ihr nicht glauben sollen, sondern für uns selbst herausfinden. Es ist ratsam ihr dies zu glauben. Charlotte ist eine große Jongleurin. Wenn wir zu schnell sind für unsere momentane Verfassung mahnt sie uns zur Langsamkeit. Wenn wir alles in Zeitlupe versuchen sagt sie: “Dient nicht dem Gott der Langsamkeit!” Es ist dann an uns aus dieser Zwickmühle herauszufindend und zu erkennen, dass nichts an ‘schnell’ oder ‘langsam’ an sich falsch ist. Die Frage ist, welche Geschwindigkeit in einem bestimmten Moment angebracht ist und was für eine Qualität diese hat. Und plötzlich erkennt man, dass, wenn man völlig in einer Aufgabe aufgeht, sich die Angebrachte Geschwindigkeit und Qualität der Bewegung von selbst einstellen.
Im ‘Leaders Workshop’ von 1885 thematisierte Charlotte die Problematik von seinem ‘Körper’ zu sprechen, als ob ‘ich’ und ‘mein Körper’ getrennt existierten. Drei Wochen lang ermahnte sie uns stets davon zu sprechen, was im Organismus als ganzes geschieht, nicht in seinen Teilen. Dann, am letzten Tag, versprach sich jemand und sagte: “Mein Bein fühlte...”, korrigierte sich jedoch sofort und sagte: “Ich fühlte...”. Charlotte darauf: “Ehret die Teile!” Sie gab uns dadurch Gelegenheit zu realisieren, dass das Ganze aus Teilen besteht und die Teile nur in Beziehung zum Ganzen bestehen – beides ist zu respektieren. Charlotte weist uns auf unsere Knöpfe hin. Wir selbst müssen sie lösen – oder sie durchschneiden – oder sie ignorieren.
Wie Charlotte auf etwas eingeht hängt immer von der Situation ab, für die sie in der einen oder andern Weise ist sie immer präsent ist. Ich habe diese kleine Frau in einem Versuch einem sehr kräftig gebauten Mann gegenüber gesehen. Die beiden stemmten sich – Handfläche an Handfläche – gegeneinander. Charlotte hatte keine Schwierigkeiten, sich diesem Kräftemessen zu stellen, sogar mit nur einem Bein auf dem Boden stehend. Ich habe sie auch völlig von Kräften gesehen – aus Frustration, wenn es ihr unmöglich erschien sich ihren fortgeschrittenen Schülern verständlich zu machen. Sie sass auf dem Boden und konnte nicht aufstehen. Sie machte uns darauf aufmerksam, wie ihr Gefühl von Ohnmacht sich in physischem Kräfteverlust äusserte. Am nächsten Tag meinte sie: “Mein Verlangen war im Weg”, und führte die Versuche fort. Was auch immer geschieht, sie kommt immer zurück zur Arbeit.
Am 23. September 2000 besuchte ich einen Kurs mit der neunundneunzig-jährigen Charlotte. Sie schien mir klarer und schärfer zu sein denn je. Ich fühlte ihre Präsenz. Doch diese fühle ich eigentlich jeden Tag meines Lebens – im Sehen, im Atmen, in meinem ganzen Sein.
II. Eine kurze Geschichte – von neunundneunzig Jahren
Charlotte Selver Wittgenstein wurde am 4. April 1901 in Ruhrort in Deutschland geboren. Sie erzählt dies von ihrer Kindheit:
“Die Stadt war umgeben von Kohlen-, Eisen- und Stahlwerken, die ein feuriges Licht verbreiteten. Mein Vater war Direktor einer Fabrik. Meine Mutter war Hausfrau. Sie war die Herrin des Hauses und viele Leute kamen um sich bei ihr Rat zu holen. Mein Vater liebte Musik und wollte, dass seine Töchter musikalisch sind. So kam ein Klavierlehrer zu uns ins Haus zum unterrichten. Klavierspielen und Gedichte lesen waren so ziemlich die einzigen Dinge die ich gern tat. Ich war dick und bewegte mich nicht gerne. Wenn meine Mutter mich zu Tante Tillis haus schickte, das nur ein paar Häuser weiter war, wollte ich nicht gehen – es war mir zu weit.
Als ich zwölf war hatte ich eine Freundin, die schön Geige spielen konnte und auch schon öffentlich aufgetreten war. Eines Tages nahm sich mich mit in ein fotografisches Atelier. Es war im Dachgeschoss eines Hauses, sehr hell und geschmackvoll eingerichtet. Die beiden Fotografinnen waren Frauen. Ich entschied, dass ich auch Fotografin werden würde.
Meine Eltern waren schockiert. Das war unter der Würde ihrer Tochter. Also streikte ich in der Schule, beantwortete keine einzige Frage mehr und versagte. Meine Eltern nahmen mich von der Schule und sandten mich zu Verwandten nach Holland, wo ich all die Museen besuchte. Als ich wieder nach Hause und zurück zur Schule kam, gab ich wieder Antwort auf des Lehrers fragen und schloss die Schule ab – immer noch entschieden Fotografin zu werden.”
Charlottes Mutter jedoch sandte sie in ein Mädchenpensionat, wo sie kochen und haushalten lernen sollte. Die Schulleiterin aber, als sie Charlotte eines Tages neben dem anbrennenden Essen beim Gedichte lesen vorfand, meinte: “Du bist hierher gekommen um haushalten und kochen zu lernen. Willst du das nicht?” Charlotte sagte nein und wurde bald darauf nach hause geschickt. Sie erzählt: “Nun endlich liess mich Vater nach Berlin gehen um Fotografie zu studieren (im Sommer 1920). Da gab es etwas, das ich besonders liebte: wir gingen auf die Strasse und wenn wir ein interessantes Gesicht sahen fragten wir die Person, ob sie sich von uns fotografieren lassen würde. Doch die Aussicht nach abgeschlossener Ausbildung in einem Atelier zu arbeiten und aufgeputzte Kinder und Erwachsene fotografieren zu müssen, behagte mir gar nicht. Ich war einfach so bezaubert gewesen von den beiden Fotografinnen und ihrem lichten, schönen Atelier im Dachgeschoss.”
Während des zweiten Jahres der Ausbildung in München hatte Charlotte auch mit dem Unterricht bei Dr. Rudolph Bode begonnen und entschloss sich bald dazu Gymnastiklehrerin zu werden. Davon schreibt sie: “Immer wieder [musste ich] zu hören bekommen: ‘Es gibt so viele interessante Berufe in der Welt. Warum, um Gottes Willen, wählen sie diesen? Sie sind völlig unbegabt für diese Arbeit!’ Ich [biss auf die Zähne und sagte zu mir]: Wenn ich das nicht bewältige, werde ich auch für nichts anders gut sein..’ Ich [bewältigte es], aber mit wieviel Schmerz und Demütigung! Und hatte ich es wirklich geschafft? War ich jetzt freier?”
Charlotte muss Heinrich Jacoby und bald darauf auch Elsa Gindler im Jahre 1923 kennengelernt haben, als sie noch bei Bode in Ausbildung war. Von ihnen hörte sie: “So etwas wie unbegabte Menschen gibt es nicht. Sie mögen behindert sein, doch diese Behinderungen können sich nach und nach auflösen. ”Charlotte: “ls ich zum ersten Mal das Studio meiner Lehrerin, Elsa Gindler, betrat .... wurde mir sofort klar ... dass alles, was ich bis dahin gelernt hatte, umsonst gewesen war .... und dass ich ganz von neuem anfangen musste.”3 Und das tat sie. Charlotte studierte mit Gindler während ihrer sehr aktiven Zeit als Bode-Gymnastiklehrerin und bis zu ihrer Flucht vor Hitler nach den USA im Oktober 1938.
Die Biographie im Bulletin der ‘New School for Social Research’ in New York gab anlässlich ihres ersten Kurse (1950) eine Zusammenfassung ihres bisherigen Berufsleben wieder:
“Charlotte Selver: Ausbildung an der Bode-Schule für Ausdrucksgymnastik, Fortbildung mit Mary Wigman und Elsa Gindler. Lehrerin der Gindler-Methode für Körper-Umerziehung. Lehrte acht Jahre an der Universität von Leipzig und am Institut für Erwachsenenbildung. Unterrichtete Athletik-Studenten und Behinderte. Gab Hochschulkurse für angehende Lehrer und Spezialkurse zur Vorbereitung von natürlichen Geburten. Verbindungen zum Bauhaus in Weimar, zum Konservatorium für Musik und zur Kunsthochschule in Leipzig, um Studierenden zu einem freieren Gebrauch ihres Organismus in ihrem jeweiligen Fach verhelfen. Spitalerfahrung mit Funktionsstörungen, sowie mit Orthopädie und Post-Operativen Fällen in Leipzig, Berlin und New York.” (Nachdem Charlotte nach New York gekommen war arbeitete sie für eine Weile als Freiwillige im Notfall und im Ambulatorium des Spitals für Gelenkleiden.)
In den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in New York lebte Charlotte mit der Schwester ihres früheren Mannes Heinrich Selver, bis sie durch den Flüchtlingsdienst eine Stelle als Gesellschafterin und Masseurin bei einer alten Frau vermittelt bekam. Eine ihrer Töchter lit unter Skoliose. Charlotte arbeitete mit ihr und konnte ihr helfen. Sie war Schriftstellerin und half Charlotte später die erste Ausschreibung in englisch zu formulieren .
Es war nicht einfach eine eigene Praxis aufzubauen. Charlotte mietete ein Studio für einige Stunden pro Woche und versandte Einladungen für Vorträge über ihre Arbeit. Vier Leute kamen zu ihrem ersten Vortrag. Zwei davon kannte sie nicht, die beiden andern waren ihre Mutter und deren Freundin, die beide kein englisch verstanden, jedoch dauernd zustimmend nickten. (Ihre Eltern waren seither auch nach Amerika gekommen.) Sie suchte viele Leute auf, darunter auch Ärzte. Einer sagte zu ihr: “Mit ihrer ruhigen und zeitintensiven Arbeit werden sie hier keinen Erfolg haben. Hier wollen die Leute sofort geheilt werden.” Doch am nächsten Tag rief sie ein Mann an und sagte: “Ich war im Wartezimmer als sie mit Dr. So-und-So sprachen und mochte ihre Stimme. Kann ich bei ihnen eine Privatstunde nehmen?” Charlotte dazu: “Ich hatte unheimlich viel Glück!”
Es stimmt wohl, dass solche Gelegenheiten Zufall sind, doch die Frage ist: Kann man Gelegenheiten wahrnehmen und dranbleiben? Charlotte blieb am Ball, auf vielerlei Weisen. Im Juli 1944, zum Beispiel, machte eine Schülerin sie mit ihrem Verlobten bekannt. Es war der Psychoanalytiker und Schriftsteller Erich Fromm. Er hatte grosses Interesse an ihrer Arbeit und nahm wöchentlich Privatstunden mit ihr so lange er in New York lebte. Durch Fromm fand Charlotte viele SchülerInnen.
Als Fritz Perls von Südafrika nach New York kam, besuchte er Fromm. Als dieser hörte, dass Perls an den physischen Manifestationen von psychologischen Störungen interessiert war, sagte er zu ihm: “Sie sollten Charlotte Selver kennenlernen.” Perls kam zu einem Kurs und nahm dann Privatstunden während der Zeit in der er in New York lebte. Viel von dem, was er dabei lernte, integrierte er in seine damals im entstehen begriffenen Gestalt Therapie.
Fromm war Mitbegründer des ‘William Alanson White Institute’ für Psychoanalyse. Er machte viele Mitglieder des Instituts auf Charlotte aufmerksam, darunter auch dessen Präsidentin Clara Thompson. Sie kam zu Kursen, gefolgt von führenden Psychoanalytikern dieser Schule: Ernst Schachtel, Rose Spiegel und Edward Tauber, Vorsitzender der Fakultät am Institut. Dr. Tauber drehte einen Film von Charlottes Arbeit und präsentierte diesen, zusammen mit einem Vortrag, der ‘Society on the Theory of Personality’. Charlotte zeigte den Film auch, unter anderem anlässlich eines Vortrages für die ‘Harry Stack Sullivan Society’.
1950 begann Charlotte ihre integrative somatische Arbeit an der intellektuell orientierten ‘New School for Social Research’ anzubieten. In den sechziger und siebziger Jahren war sie da so erfolgreich, dass sie deren grössten Saal füllte und die Gruppen oft aufgeteilt werden mussten.
Im Sommer 1957 wurde sie vom Departement für Psychoanalyse der Universität von Mexico nach Cuernavaca in Mexico eingeladen, um an der Daisetz Suzuki–Erich Fromm-Konferenz über Zen Buddhismus und Psychoanalyse teilzunehmen. 1959 ging sie zum zweiten mal nach Mexico, um einen 10-tägigen Kurs in ‘Sensory Awareness, Non-verbal Experience and Communication’ für Studenten und Mitarbeiter des Departements für medizinische Psychologie und Psychiatrie zu geben. Dies war der Anfang ihrer Verbindung zu Mexico, wo sie noch heute jeden Winter unterrichtet.
Im selben Jahr wurde ein ‘Komitee zur Förderung von Charlotte Selvers Arbeit’ gegründet. Nebst vielen Psychologen, Psychiatern und Psychoanalytikern war auch Charlotte Schuchardt Read, die Assistentin von Alfred Korzybski und spätere Präsidentin des ‘Institute of General Semantics’, Unterstützerin deses Komitees. Sie hatte erkannt, dass Charlotte Selvers Arbeit den Zugang zu Korzybskis ‘silent level’ (etwa ‘Wortloser Ebene’), dieser entscheidenden Basis für die vielen Ebenen intellektueller Abstraktion, erleichtern kann. Dann war da John Collier, der Anthropologe und ‘US Comissioner of Indian Affairs’. Er hatte Jahre zuvor (Juli 1948) für Charlotte einen Besuch bei den Hopi Indianern der ‘Second Mesa’ in Arizona arrangiert. Er hatte damals gesagt: “Charlotte, du musst deine Verwandten kennenlernen!”
Andere UnterstützerInnen des Komitees waren: Frances Flaherty (die Frau des Filmemachers Robert Flaherty), Professor Kurt Goldstein (Neurologe, Psychiater und Autor des Buches The Organism), Erick Hawkins (Tänzer und Choreograph), sowie Alan Watts, Schriftsteller und damaliger Dekan der ‘American Academy of Asian Studies’.
Die Verbindung mit Alan Watts war Schicksalshaft. Charlotte erinnert sich:
“Meine Tante in San Francisco schrieb mir: ‘Gestern abend hörte ich einen Mann von dem sprechen, was du tust.’ Sie sandte mir Alan Watts erstes Büchlein The Spirit of Zen Ich hatte noch nie von Zen gehört, war erstaunt und fasziniert und beschloss, den Autor zu besuchen.”
Ihre erste Begegnung fand dann im August 1953 statt. Dies war der Beginn ihrer Verbindung mit Zen-Buddhismus, sowie der jahrelangen gemeinsamen Kurstätigkeit mit Watts, zuerst in New York und später auch auf Watts Hausboot in Sausalito bei San Francisco. Die Seminare hatten solch klingende Namen wie: ‘Moving Stillness’, ‘The Unity of Opposites’, ‘Our Instantaneous Life’, ‘The Mystery of Perception’, ‘The Tao in Rest and Motion’ (Watts betonte oft, dass Charlotte eine westliche Form des Taoismus lehre).
Einer ihrer Kurse in Kalifornien wurde von Michael Murphy und Richard Price besucht, die zwei Jahre später, 1963, das ‘Esalen Institute’ gründeten. Charlotte war die erste, die dort nicht-verbale Selbsterfahrungskurse anbot. Später konnte man in der Instituts-Broschüre lesen: “Charlotte Selvers Pionierarbeit in den USA bildet die wichtigste Grundlage der Arbeit im Bereich von Sensory Awareness, Sensory Awakening und verwandten Arbeitsweisen, die weite Anerkennung gewonnen haben.”
1971 wurde die Charlotte Selver Foundation (CSF, jetzt Sensory Awareness Foundation, SAF) gegründet um, wie es in ihren Statuten heisst, “die Arbeit in Sensory Awareness nach Charlotte Selver zu unterstützen.” 1974 besuchten mehr als 200 Leute einen Kurs an der ‘New York University’ unter der Patronat der Universität und der CSF. Dieser Kurs, den Charlotte zusammen mit ihrem Mann und Kollegen Charles Brooks, sowie achtzehn weiteren KollegInnen anbot, diente zur “Bekanntmachung mit Zugängen zu ‘Sensory Awareness’, die demonstrieren, wie die Arbeit im Alltag und im Berufsleben integriert werden kann.
Zusammen mit Moshe Feldenkrais, Alexander Lowen, Ida Rof, Barbara Brown, Ashley Montagu, Karl Pribram, Carl Rogers und Margaret Mead nahmen Charlotte Selver und Charles Brooks 1979 an einer Tagung unter dem Titel ‘Explorers of Humankind’ teil, um die ‘Natur des Menschen’ zu erörtern.
1986 wurde Charlotte Selver als eine der Pionierinnen der Humanistischen Psychologie von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara angefragt, ob ihr Nachlass dereinst in deren Archiv für Humanistische Psychologie aufgenommen werden könne. Die Übergabe dieser Materialien (Korrespondenz, Manuskripte, Ton- und Bildaufnahmen etc.) hat kürzlich begonnen.
1995 wurde Charlotte der Titel des ‘Doctor of Humane Letters, honoris causa’ vom ‘California Institute of Integral Studies’ verliehen. Im Jahr 2000 wurde das ‘Charlotte Selver Stipendium’ am ‘Santa Barbara Graduate Institute’ eingerichtet. An diesem Institut kann man zum ersten Mal ein Doktorat in Somatischer Psychologie, sowie den Magister und ein Doktorat in prä- und perinataler Psychologie machen. Das Grundlagestudium für dieses dreijährige Programm bildet Sensory Awareness.
Doch all dies sind Daten, Namen von Leuten und Veranstaltungen. Das Herz von Charlottes Arbeit jedoch bilden die fortlaufenden Kurse und Workshops, die zu diesen Veranstaltungen führten. Die Möglichkeit sein Verhalten am eigenen Leib zu erfahren, die ‘körperliche’ Empfindung einer ‘geistigen’ Haltung zu erleben, war neu, und Charlottes Forschung in dieser Gewahrseins-Arbeit war offensichtlich für viele Menschen lohnend. Hatte Charlotte in den USA anfangs noch eine Unterrichtsstunde pro Woche unterrichtet, waren es im Jahre 1949 schon fünf, und die Kosten waren von $6 pro Monat auf $3 pro Stunde gestiegen. 1953 gab sie zwölf Stunden pro Woche. Im Prospekt heisst es: “Morgens, nachmittags, abends” und “Zusätzliche Stunden auf Anfrage. Bitte Anfragen.” Sie gab auch Vorträge, Privatunterricht und spezielle Kurse zu Themen wie: ‘Atmen’, ‘Verspannungen Lösen’, ‘Bewegung’, ‘Augen und Hals’. Schwangerschaftskurse wurden auch angeboten. Eine Frau berichtete, wie sie diese besuchte und drei Kinder ohne Schmerzen gebar.
Die Kurse kamen vor allem durch Mund-zu-Mund-Propaganda zustande. Charles Brooks (der das erste Buch über Charlottes Arbeit schrieb ) erzählt, wie er 1958 zu der Arbeit gekommen ist:
“Ich hörte durch einen Freund von Charlotte. Zuerst zögerte ich dahin zu gehen, denn er konnte mir nicht recht beschreiben was es war.” Ich dachte, dass diese Dinge nicht wirklich für Männer sind. Doch mein Freund war ein ‘Lieutenand Commander’ in der ‘Battle of the Bulge’ im zweiten Weltkrieg gewesen. So dachte ich, ‘wenn er dies akzeptieren und geniessen kann, dann werde ich es auch schaffen.’ Mein Freund sagte mir, dass die Faust, die er für so lange Zeit in seiner Magengrube gefühlt hatte, im Laufe des Kurses ganz einfach verschwunden war. Ich dachte: ‘Ich habe auch eine Faust in der Magengrube. Es wäre toll, wenn sie verschwinden würde.’ Und so ging ich hin und schrieb mich ein.
Ich war von Charlottes Persönlichkeit, ihrer Art zu sprechen und von der Atmosphäre im Unterricht sehr beeindruckt. Ihre Fragen waren vernünftig. Zum Beispiel: ‘Fühlen sie worauf sie stehen?’ Und sie wollte offensichtlich keine Antwort darauf. Das faszinierte mich. Ich wurde sofort zu ihrem Schüler und bin es bis heute geblieben.”
Charlotte und Charles heirateten im August 1963. In diesem Jahr begannen sie auch zusammen zu unterrichten. Als ich sie kennenlernte, unterrichteten sie abwechselnd in den gemeinsamen Workshops. Doch arbeiteten sie auch auf andere Weise zusammen: Charlotte ist schon seit sehr langem schwerhörig. Als ich sie kennenlernte trug sie ein Kästchen an ihrem Kleid, das ihr in Konversationen hilfreich war, doch selbst mit diesem Gerät konnte sie die Leute im Unterricht nicht mehr verstehen. So sass Charles neben ihr wenn die Schüler sprachen, um für sie die Reporte zu wiederholen. Später benutzte sie ein sensibles Hörgerät und ein Mikrofon, in das die SchülerInnen sprechen konnten. Seither sind die Anforderungen, die der Gebrauch des Mikrofons stellt, Teil des Lernprozesses der Kursteilnehmer.
Nachdem Charlotte und Charles sich zusammengetan hatten etablierte sich eine jährlich wiederkehrende Folge von Seminaren: Frühling in Kalifornien, Sommer auf Monhegan Island in Maine, Herbst in New York und Winter in Mexico. Später kamen sommerkurse in Europa dazu, in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Charles erzählt von ihren ersten gemeinsamen Kursen 1963 in Kalifornien:
“Wir verbrachten neun Monate im Dachgeschoss eines Hauses in San Francisco. Jeden Dienstag schoben wir die Matratze unter das Dachgesims und Packten alle unsere Dinge weg, so dass die Vermieterin, eine bemerkenswerte Frau von etwa 85 Jahren, ihre Tanzstunden geben konnte. Dann fuhr ich mit Charlotte zu einem Ort 20 Meilen südlich von San Francisco, wo sie eine Stunde gab. Dann brachte ich sie zum Zwei-Uhr Flugzeug nach Los Angeles. Ich selbst fuhr mit dem Wagen dahin und wir trafen uns spätabends in Hollywood wieder, nachdem sie dort ihren Unterricht gegeben hatte. Sie Unterrichtete auch mittwochs und freitags in einem Studio bei Sunset Way. Danach fuhren wir wieder zurück nach San Francisco, wo sie weiter Stunden gab. Am Dienstag fing es dann wider von vorne an.”
Charlotte musste zu dieser Zeit ihr Studio in New York aufgeben und als sie 1964 zurück nach New York kamen, mieteten sie einen Raum, der auch einem Partnervermittlungsdienst als Begegnungsort diente. Charles erzählt weiter:
“Wir unterrichteten dort von Montag bis Donnerstag. Am Freitag morgen packten wir unsere Sachen weg, genau wie in San Francisco, und hängten die erotischen Bilder wieder auf, die wir versteckt hatten. Wir kamen dann am Sonntag nachmittag wieder zurück, öffneten alle Fenster um den Rauch hinauszulassen und nahmen die Bilder wieder von den Wänden. Am nächsten Tag begann dan der Unterricht von Neuem. Das ging so bis wir das Studio an der 73. Strasse fanden, das dann unser Heim war bis ich unser Haus in Kalifornien baute, nicht weit von San Francisco Zen Centers ‘Green Gulch Farm’.”
Die langjährige freundschaftliche Verbindung mit ‘San Francisco Zen Center’ kam durch Richard Baker zustande, nachdem dieser durch einen der Workshops, die Charlotte zusammen mit Alan Watts gab auf Charlotte aufmerksam geworden war. Durch ihn lernte Charlotte Shunryu Suzuki und seine SchülerInnen kennen, die zusammen in einer alten Synagoge an der Bush Street praktizierten. Suzuki Roshi wollte ein Kloster auf dem Land einrichten, und so sammelte Richard Baker Geld für ein Grundstück nahe des Carmel Valley, wo ‘Tassajara Zen Mountain Retreat’ entstehen sollte. Er organisierte das sogenannte ‘Zenefit’, an dem Charlotte und Charles zusammen mit Suzuki Roshi telnahmen.
Nachdem Tassajara seine Tore geöffnet hatte, gaben Charlotte und Charles dort jedes Jahr Kurse zugunsten von Zen Center. Zusammen mit ihren SchülerInnen ermöglichten sie auch den Bau des schönen ‘Wheelright Center’ der Green Gulch Farm. Es finden dort jedes Frühjahr und jeden herbst Kurse statt, und die Teilnehmer haben gelegenheit am Zazen teilzunehmen, sowie auf der Farm zu arbeiten. Umgekehrt nehmen auch oft Zen-SchülerInnen an den Sensory Awareness-Kursen teil. Es finden dort auch längere sogenannte ‘Study Groups’ statt, in denen die SchülerInnen am Leben der Farm teilnehmen.
Die erste Study Group fand in den Jahren 1972-73 statt und dauerte neuen Monate. Während des Winters wurde in Mexico gearbeitet, im Frühjahr auf der Green Gulch Farm in Kalifornien und im Sommer dann auf Monhegan Island in Maine. Ausser während der Reise zwischen diesen Orten wurde fast jeden Tag gearbeitet, auch als Charlotte nach einem schweren Autounfall mit einer gebrochenen Hüfte auf Monhegan ankam und auf einer Barre zum Unterricht getragen werden musste.
Spätere Study Groups waren kürzer, doch finden sie immer noch jährlich statt und ermöglichen damit Teilnehmern aus aller Welt ein vertieftes Studium. Die meisten SchülerInnen, denen Charlotte über die Jahre Lehrerlaubnis gegeben hat, haben solche ‘Study Groups’ besucht.
Seitdem Charles Brooks im Sommer 1991 gestorben ist, hat oft eine andere Schülerin oder ein Schüler von Charlotte in der Study Group assistiert.
1985 wurde die ‘Sensory Awareness Leaders Guild’ (SALG) gegründet und heute wird Sensory Awareness von deren Mitgliedern nicht nur in den USA, Kanada, Mexico und Westeuropa angeboten, sondern auch in Russland, Japan und Indien.
Es scheint, dass im weitergeben dieser Arbeit, die ‘Lehrerin’ ebensoviel oder mehr über die Möglichkeiten der Veränderung und Erneuerung lernt wie die SchülerInnen, sei es für sich oder in Beziehung zu andern. Charlotte ist ein gutes Beispiel dafür, wird sie doch am 4. April 2001 ihren hundertsten Geburtstag feiern. Natürlich hat sie treue Schüler, die ihr in mancher Weise helfen, so wie Peter Gracey, den sie, nachdem er schon einige Jahre für sie gesorgt hatte, im Dezember 1999 heiratete. Doch trotz all dieser Hilfe ist es erstaunlich, wieviel Charlotte immer noch arbeitet. So plant sie im Frühjahr 2001 eine weitere Study Group anzubieten. Danach geht es in gewohnter Weise weiter: Europa, Monhegan Island, New York City, Kalifornien, Mexico. Sensory Awareness ist ihr Leben, und sie erfreut sich weiterhin daran diese Arbeit anzubieten, trotz Altersgebrechen, Schwerhörigkeit und immer schwächer werdenden Augen. Sie scheint auch so zu fühlen, was in ihren SchülerInnen geschieht und schlägt Versuche vor, die ihnen zu wichtigen Entdeckungen verhelfen.
Eine Frau, die schon seit bald vierzig Jahren mit Charlotte studiert, sagte von einem kürzlich besuchten Workshop: “Ich glaube es war der beste, den ich je mit ihr erlebt habe!” Sie wird dies vermutlich auch vom nächsten Kurs sagen.
Frühling 2001
Mary Alice Roche
(Übersetzung aus dem Amerikanischen von Stefan Laeng-Gilliatt)
Eine Pionierin der humanistischen Bewegung ist tot —
Charlotte Selver starb am 22. August 2003 102-jährig
Charlotte Selver ist am 22. August im Alter von 102 Jahren in ihrem Heim in Muir Beach in Kalifornien im Kreis ihrer engsten Freunde und Schüler gestorben.
Charlotte Selver übte mit ihrer Arbeit «Sensory Awareness» einen entscheidenden Einfluss auf das «Human Potential Movement» und die Humanistische Psychologie aus. Aspekte ihrer Arbeit flossen auch in viele der heute verbreiteten Methoden im Bereich der Körperarbeit und Psychosomatik ein.
Sie hat in den über achtzig Jahren ihrer Tätigkeit Tausende von Menschen in den USA, Europa und Mexiko tief berührt und angeregt, unter ihnen einflussreiche Persönlichkeiten wie den Psychoanalytiker Erich Fromm, den Zen-Philosophen Alan Watts und Fritz Perls, den Begründer der Gestalttherapie.
Charlotte Selver (geb. Wittgenstein) ist am 4. April 1901 in Ruhrort (Duisburg) zur Welt gekommen. In den turbulenten und kreativen Jahren nach dem ersten Weltkrieg hatte die junge Charlotte grosses Interesse an der Deutschen Reformbewegung. In den zwanziger Jahren heiratete sie Heinrich Selver. Obwohl diese Ehe 1931 aufgelöst wurde, lebten Charlotte und Heinrich noch bis 1938 zusammen. Ihre Wege schieden sich nach der Flucht in die USA. Sie blieben jedoch gute Freunde bis zu Heinrichs Tod im Jahre 1957.
Noch während ihrer Ausbildung in Bode-Gymnastik fand Charlotte Selver ihren Weg zu Elsa Gindler. Deren revolutionäre Arbeit, die der Erforschung menschlicher Verhaltensweise in Bewegung und Ausdruck galt, war der Auslöser einer lebenslangen Leidenschaft.
In der Folge unterrichtete Charlotte Selver in vielen Städten Deutschlands, bis sie sich in Leipzig niederliess, wo sie an der Universität Gymnastik lehrte. Als Jüdin verlor sie diese Stelle bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. 1938 emigrierte sie nach New York. Dort musste sie ganz von Neuem beginnen. Ihre von Elsa Gindler geprägte Arbeitweise, die sie später «Sensory Awareness» nannte, war in den USA völlig unbekannt.
Während sie anfangs vor allem mit anderen Emigranten arbeitete, stellte sich jedoch schon bald ein immer grösser werdender Kreis auch von amerikanischen Schülerinnen und Schülern ein. Sei es an der «New School for Social Research», in ihrer Arbeit mit Psychoanalytikern des «William Alanson White Institute» oder in ihrer eigenen Praxis, Charlotte Selver forderte ein intellektuell orientiertes Publikum mit einer Arbeitsweise heraus, die non-verbale Erfahrung und individuelle Entdeckungen in den Vordergrund stellt.
Charlotte Selver wollte keine Methode vermitteln. Sie ermutigte ihre Schülerinnen und Schüler, an sich selber zu erfahren, wie sie sich im Umgang mit Menschen und Dingen «zweckmässig» verhalten können, wie Bewegungen naturgemäss verlaufen, wie der Atem ungestört fliessen kann. Angelpunkt ihrer Arbeitsweise ist das «Erfahren durch die Sinne». Charlotte Selver war davon überzeugt, dass das Wohlbefinden des Individuums, der Gesellschaft als Ganzes sowie auch die Sorge um unsere Umwelt davon abhängen, in wie weit wir zu einem neuen Vertrauen in organische Prozesse finden.
Auf Grund der Zusammenarbeit mit Allan Watts begann Charlotte Selver in den späten 50-er Jahren auch in Kalifornien zu unterrichten. Ab 1963 bot sie als Erste non-verbale Workshops am Esalen Institute in Big Sur an. Damit trug sie entscheidend zur Entfaltung vieler somatisch orientierter Arbeitsweisen bei und nahm wesentlichen Einfluss auf die sich ausbreitende humanistisch-therapeutische Bewegung.
Seit den 60-er Jahren arbeitete sie auch regelmässig mit Schülern des «San Francisco Zen Centers». Diese Verbindung blieb bis an ihr Lebensende bestehen.
Während fast dreissig Jahren, bis zu seinem Tod 1991, bot Charlotte Selver Kurse zusammen mit ihrem zweiten Mann, Charles W. Brooks an. Viele Schülerinnen und Schüler reisten ihnen um die halbe Welt nach, um über Monate regelmässig am Unterricht teilhaben zu können.
1971 wurde die «Sensory Awareness Foundation» ins Leben gerufen, eine Stiftung, deren Ziel die Erhaltung und Dokumentation von Charlotte Selvers Lebenswerk ist. 1995 verlieh ihr das «California Institute of Integral Studies» in San Francisco den Ehrendoktortitel.
Seit März 2003 verbrachte Charlotte Selver die letzten Monate in ihrem Heim in Muir Beach in San Francisco, in der umsorgenden Pflege ihres dritten Mannes, Peter Gracey.
Eine grosse Anzahl an Schülerinnen und Schülern wird die Arbeit mit Charlotte Selver mit grosser Dankbarkeit in liebevoller Erinnerung behalten..
Die von Charlotte Selver autorisierten «Leaders» werden «Sensory Awareness» – im Bewusstsein des grossen Verlustes – achtsam und sorgfältig im Sinne von «Charlotte» weiter vermitteln.
September 2003
Stefan Laeng Gilliatt
riesemann - 28. Mär, 11:42
Bettina von Arnim (Bildnis auf dem alten 5-DM-Schein der BRD), geboren als Elisabeth Catharina Ludovica Magdalena Brentano war eine deutsche sozialkritische Schriftstellerin.
Bettina von Arnim war die Schwester des Dichters Clemens Brentano; ihre Schwester Kunigunde ("Gunda") war mit dem Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny verheiratet. 1811 heiratete sie Ludwig Achim von Arnim (heimliche Hochzeit, da er kein großes Fest wünschte). Sie ist die Mutter von Gisela von Arnim.
Werke
Briefwechsel mit einem Kinde, 1835 (Briefwechsel mit Johann Wolfgang von Goethe)
Die Günderode, 1840
Dies Buch gehört dem König, 1843
Clemens Brentanos Frühlingskranz, 1844
An die aufgelöste Preußische Nationalversammlung, 1849
Nachleben
1985 wurde aus Anlass ihres 200. Geburtstages in Berlin die Bettina-von-Arnim-Gesellschaft gegründet. Sie hat das Ziel, Leben und Werk dieser bedeutenden Berliner Frau des 19. Jahrhunderts einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die Gesellschaft schreibt alle drei Jahre einen undotierten Forschungspreis aus und gibt das Internationale Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft heraus, das im Saint Albin Verlag in Berlin erscheint.
Weblinks
Homepage der Familie von Arnim (http://www.vonarnim.com/start.html) weitere Informationen zu Bettina unter Personen -> Portraits
http://home.snafu.de/alg/gesellsc/a-mitgl/arnim.htm: Bettina-von-Arnim-Gesellschaft e.V.
http://www.saint-albin-verlag.de: Hier sind viele wissenschaftliche Veröffentlichungen über Bettina von Arnim und ihre Zeit erschienen, z. B. das Internationale Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft
http://gutenberg.spiegel.de/autoren/arnimb.htm: Texte im Projekt Gutenberg-DE
http://www.ub.fu-berlin.de/internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren/multi_ab/b_arnim.html - Kommentierte Linksammlung
riesemann - 18. Feb, 18:41
Lehrerin; arbeitete am Leipziger Arbeiterbildungsverein; 1906-08 Redakteurin der Zeitschrift "Die Gleichheit". Mitbegründerin vom Spartakusbund und KPD. 1939 Emigration nach Amerika; 1947 Rückkehr in die DDR
riesemann - 18. Feb, 18:38
"Das Judentum als Lebensgrundlage"
Als Tochter eines Bankiers wird Hannah Karminski 1897 in Berlin geboren. Im Pestalozzi-Fröbel-Haus lässt sie sich als Kindergärtnerin ausbilden. Danach geht sie nach Hamburg um bei Gertrud Bäumer am sozialpädagogischen Institut zu studieren. Mitte der zwanziger Jahre zieht sie nach Frankfurt/Main. Dort stellen Begegnungen mit führenden Frauen des Jüdischen Frauenbundes die Weichen für ihr weiteres Leben.
Berta Pappenheim hatte 1904 den jüdischen Frauenbund gegründet, der bis 1933 auf 50 000 Mitglieder im Deutschen Reich anwachsen sollte. Diese waren in Ortsgruppen organisiert. Sie bauten mit der Zeit ein weitverzweigtes Netz vielfältiger sozialpolitischer und sozialarbeiterischer Aktivitäten auf: Beratungsstellen, Kindererholungsheime, geistig-kulturelle Arbeit, Bildungsarbeit, Mutter- und Kinderschutz... 1909 wurde die jüdische Bahnhofshilfe gegründet. Zu dieser Zeit kommt eine Vielzahl ostjüdischer Frauen in die Großstädte auf der Suche nach einem besseren Leben. Ihr aufenthaltsrechtlicher Status ist oft ungesichert. Sie wissen nicht um ihre potentielle Gefährdung durch Frauenhandel und Prostitution. Mit den um ein Jahrzehnt früher gegründeten christlichen Bahnhofsmissionen gibt es eine vielfältige Zusammenarbeit: So werden gemeinsam Plakate gedruckt, die in Zügen und auf den Wohlfahrtsbrettern der Bahnhöfe aushängen. Auch Bahnhofssammlungen und sogar die Fortbildung der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen wird zum Teil gemeinsam durchgeführt.
1924 wird Hannah Karminski Mitglied des Jüdischen Frauenbundes (JFB) und auch die engste Freundin und Mitarbeiterin der fast 40 Jahre älteren Berta Pappenheim. Ein wichtiges Anliegen ist Hannah Karminski die Berufstätigkeit und die Gleichberechtigung jüdischer Mädchen und Frauen in der Gemeinde. Mit ihrer professionellen Ausbildung und ihrer Begabung in einer Organisation sinnvolle Strukturen zu entwickeln wird sie eine tragende Säule des Jüdischen Frauenbundes.
Schon bald übernimmt sie die Hauptgeschäftsführung und wird Herausgeberin der seit 1924 monatlich erscheinenden Verbandszeitschrift „Blätter des Jüdischen Frauenbundes für Frauenarbeit und Frauenbewegung". Als Quelle all ihres Tuns bezeichnet sie "tiefempfundenes Bekenntnis zum Judentum als Lebensgrundlage."
1933 wird die jüdische Bahnhofshilfe kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aufgelöst. Maßgeblich dafür waren dafür Aktivitäten eines leitenden Diakoniepfarrers der evangelischen Bahnhofsmission. Er hoffte durch dieses "Bauernopfer" seine Institution länger über die Runden zu bringen. Die Konsequenzen der fortschreitenden Ausgrenzung und Entrechtung beginnt sich immer massiver auf den Alltag auszuwirken. Durch den Verlust der Arbeitsstellen werden immer mehr Familien von Leistungen der jüdischen Wohlfahrtspflege abhängig. Je mehr sich die Situation verschärft, umso mehr Juden kommen aus Dörfern und Kleinstädten nach Berlin und in andere Großstädte. Juden werden aus der NS-Wohlfahrt ausgeschlossen. Als Folge davon wird 1935 die jüdische Winterhilfe gegründet, in der sich auch der Jüdische Frauenbund engagiert. Kleiderkammern, Kinderlesestuben, koschere Suppenküchen, Pfundpakete und Brennstoffversorgung sowie Kurse in Haushaltsführung müssen organisiert werden, aber auch persönlicher Beistand und psychologische Unterstützung werden geleistet.
Eine zusätzliche Belastung für Mütter besteht darin, dass die Kinder in der Schule diskriminiert werden und an bestimmten schulischen Aktivitäten nicht mehr teilnehmen dürfen. Einzelne Ortsgruppen organisieren auch Maßnahmen der sogenannten "seelischen Winterhilfe" wie Wohltätigkeitskonzerte, Lesenachmittage und Ausstellungen jüdischer Künstlerinnen. Organisationen für berufstätige Frauen wurden von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet und Jüdinnen aus diesen ausgeschlossen. Daraufhin gründete der Jüdische Frauenbund Gruppen für diese - noch - berufstätigen Jüdinnen, die vorher nicht Mitglieder im JFB waren. Ein wichtiges Anliegen ist darüber hinaus, die Stärkung und Festigung jüdischer Identität und die Vertiefung jüdischen Wissens durch Vorträge und Gesprächsrunden. Zunehmend nimmt auch die Vorbereitung auf die Emigration immer breiteren Raum ein. 1938 wird der Jüdische Frauenbund aufgelöst. Hannah Karminski arbeitet danach in der "Reichsvertretung der Deutschen Juden" in der Charlottenburger Kantstraße. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die Leitung der Abteilung "Fürsorge und Auswandererberatung". Dort unterstützt sie jüdische Frauen und Kinder bei der Vorbereitung und Durchführung der Emigration.
Sowohl ihre internationalen Verbindungen durch den jüdischen Frauenbund als auch ihr familiärer Hintergrund hätten ihr eine Auswanderung ermöglichen können. Sie verzichtet auf diese Chance um der Menschen willen, die sie hier brauchen. Zuletzt wohnt sie in einem "Judenhaus". 1942 wird sie deportiert und ermordet. Der genaue Todesort und das Todesdatum sind nicht bekannt.
Im Oktober 2002 wurde eine Straße im Bezirk Charlottenburg nach ihr benannt.
riesemann - 18. Feb, 17:38
Geschaftsführerin der VHS Hannover
Ging mit Ihrem Mann Theodor ins Exil in die CSSR.
1938 Emigration nach England, wo sie zusammen mit Minna Specht die "Schule der Eimgrantenkinder" leitete. Nach Ihrer Rückkehr nach dem KRieg nach Deutschland leitete sie das niedersächsische Lehrerfortbildungsheim Schwöbber bei Höxter.
riesemann - 18. Feb, 09:27
Rosa Luxemburg - geboren als Rosalia Luxenburg in Zamość, Kreis Lublin in Polen, war eine bedeutende Vertreterin der internationalen Arbeiterbewegung, zuerst in Polen und der Schweiz, seit 1898 in Deutschland. Sie war eine profilierte marxistische Theoretikerin der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und entschiedene proletarische Internationalistin. 1914 gründete sie die "Gruppe Internationale" und führte den daraus hervorgehenden Spartakusbund mit an. Bis 1917 blieb sie Mitglied der SPD und wechselte dann mit dem Spartakusbund in die neugegründete USPD. Sie war politische Autorin unter anderem in der "Leipziger Volkszeitung", später Herausgeberin der Zeitung "Die Rote Fahne". Ende 1918 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der KPD, deren erstes Parteiprogramm sie im Wesentlichen entwarf, formulierte und vortrug.
Ihre theoretische und praktische Arbeit für den Sozialismus, die internationale Solidarität der Arbeiterklasse, gegen Militarismus und Krieg wirkte weit über ihre Zeit und die Grenzen Deutschlands hinaus.
Rosa Luxemburgs Leben
Jugend, Einstieg in die Politik, Studium (1871-1897)
Am 5. März 1871 wurde Rosa Luxemburg als fünftes Kind des Holzhändlers Eliasz Luxemburg und dessen Frau Line (geb. Löwenstein) im damals russischen Teil Polens ("Kongresspolen") geboren. Sie war kleinwüchsig und lebenslang körperbehindert. Ihre Eltern waren jüdischen Glaubens.
Nach dem Umzug der Familie nach Warschau besuchte sie dort seit 1880 das Zweite Mädchengymnasium. Noch in der Schulzeit engagierte sie sich ab 1886 in der Partei „Proletariat“. Diese polnische Linkspartei wurde 1882 – knapp 20 Jahre vor den russischen Arbeiterparteien – gegründet und organisierte erstmals einen Massenstreik. Daraufhin wurden vier ihrer Anführer hingerichtet und die Partei aufgelöst. Nur im Untergrund konnten einige Teilgruppen weiterarbeiten. Einer von ihnen schloss sie sich an.
1888 machte sie das Abitur mit Auszeichnung. Ein Jahr darauf musste sie vor einer drohenden Verhaftung fliehen und ging nach Zürich in die Schweiz, dem damaligen Exil vieler russischer und polnischer Intellektueller. Dort beteiligte sie sich sofort an örtlichen Arbeiter- und Emigrantengruppen und gewann rasch einen Ruf als führende Theoretikern der polnischen Arbeiterbewegung. Sie studierte an der Zürcher Universität Philosophie, Geschichte, Politik, Ökonomie und Mathematik zugleich. Ihre Schwerpunkte waren Staatswissenschaften (heute: Volkswirtschaftslehre und Politologie), Mittelalter, Wirtschafts- und Börsenkrisen.
Als im Deutschen Reich nach 12 Jahren Gültigkeit die Bismarckschen Sozialistengesetze 1890 aufgehoben wurden, konnte die SPD auf legalem Weg weitere Reichstagssitze gewinnen. Ihre Abgeordneten setzten sich nun immer weniger für andere Produktionsverhältnisse, immer mehr nur noch für allmähliche Erweiterung parlamentarischer Rechte und materiellen Wohlstands ein, obwohl sie nach außen revolutionäre Reden hielten.
Rosa Luxemburg vertrat dagegen eine konsequent marxistisch-revolutionäre Haltung. 1893 gründete sie gemeinsam mit Leo Jogiches und Julian Marchlewski die "Sozialdemokratische Arbeiterpartei Polens und Litauens" (SDARP) gegen die bestehende "Polnische Sozialistische Partei" (PPS). Deren Ziel war Polens Unabhängigkeit und seine Umwandlung in eine bürgerliche Demokratie. Sie kritisierte diesen Nationalismus in der Pariser Exilzeitung "Sprawa Robotnicza" (Arbeitersache) und vertrat dagegen, dass Polen nur durch eine Revolution in Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland unabhängig werden könne. Vorrang müsse der Kampf gegen die Monarchie und den Kapitalismus in ganz Europa haben. Dessen Überwindung sei die Vorbedingung für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Diese Auffassung wurde später ein Grund für ihren Streit mit Lenin.
1897 promovierte sie in Zürich summa cum laude zum Thema "Polens industrielle Entwicklung".
Für Marxismus, gegen Militarismus in der SPD (1898-1914)
Im Jahr darauf heiratete sie Gustav Lübeck, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Sie zog nach Berlin und trat in die SPD ein. Dort wurde sie aufgrund ihrer scharfen Rhetorik und ihrer analytischen Fähigkeiten rasch zur Wortführerin des linken Parteiflügels.
In dieser Rolle griff sie 1899 mit einer Artikelserie in der angesehenen "Leipziger Volkszeitung" in die sogenannte Revisionismus-Debatte ein. Eduard Bernstein vertrat damals die Theorie, dass Interessenausgleich und soziale Reformen die Auswüchse des Kapitalismus mildern und von allein zum Sozialismus führen würden, so dass die SPD sich auf parlamentarische Mittel beschränken könne. Dagegen bestand Rosa Luxemburg darauf, dass der in Krisen zugespitzte Gegensatz von Kapital und Arbeit nur durch eine Machtübernahme des Proletariats und eine revolutionäre Umgestaltung der Produktionsverhältnisse zu überwinden sei. Sie forderte den Ausschluss der Revisionisten aus der SPD.
Dieser unterblieb, aber die Parteiführung unter August Bebel und Karl Kautsky behielt den Marxismus in ihrem Programm. Sie verfolgte jedoch praktisch einen reformistischen Kurs und versuchte vor allem, ihre Reichstagsfraktion zu vergrößern.
Von nun an war Rosa Luxemburg als scharfzüngige intelligente Gegnerin der Revisionisten bekannt, geachtet und zum Teil auch gefürchtet. Sie übernahm als erste Frau die Chefredaktion der "Leipziger Volkszeitung". Doch nachdem sie sich mit einem Redakteur des SPD-Parteiblatts "Vorwärts" angelegt hatte und von Intrigen gegen sie erfuhr, trat sie zurück. Sie wollte sich den autoritären, von Männern dominierten Machtstrukturen in der SPD nicht beugen.
Fortan nahm sie in zahlreichen Zeitungsartikeln und Parteigremien zu aktuellen ökonomischen und sozialpolitischen Problemen in allen Staaten Europas Stellung. Sie griff vor allem immer stärker den deutschen Militarismus und Imperialismus an, da sie den kommenden Krieg der europäischen Großmächte voraussah. Sie versuchte, ihre Partei zu einem energischen Gegenkurs zu verpflichten.
Im Reichtagswahlkampf 1903 sagte sie öffentlich vor einer Menge: "Der Mann, der von der guten und gesicherten Existenz der deutschen Arbeiter spricht, hat keine Ahnung von den Tatsachen." Wer gemeint war, war eindeutig. Daher wurde sie 1904 wegen "Majestätsbeleidigung" zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, von denen sie aber nur 6 Wochen verbüßen musste.
Danach reiste sie unter falschem Namen nach Polen, um die SDARP zur Teilnahme an der russischen Revolution von 1905 zu bewegen. Sie wurde verhaftet und ausgewiesen. Im folgenden Jahr wurde sie wegen Anreizung zum Klassenhass erneut zu zwei Monaten Haft verurteilt.
Um die "internationale Solidarität der Arbeiterklasse" gegen den Krieg einzuüben, forderte sie nun energisch von der SPD die Vorbereitung des Generalstreiks nach polnisch-russischem Vorbild ("Massenstreik, Partei und Gewerkschaften" 1906). Zugleich setzte sie ihr internationalistisches Engagement fort und nahm 1907 mit Leo Jogiches, ihrem damaligen Lebenspartner, am V. Parteitag der russischen Sozialdemokraten in London Teil. Dort lernte sie Lenin kennen. Beim folgenden Kongress der 2. Internationale in Stuttgart brachte sie eine Resolution ein, die gemeinsames Handeln aller europäischen Arbeiterparteien gegen den Krieg vorsah. Diese wurde angenommen.
Nun begann sie als Dozentin für Marxismus und Ökonomie an der SPD-Parteischule in Berlin zu lehren. Einer ihrer Schüler war der spätere SPD-Vorsitzende und erste Präsident der Weimarer Republik, Friedrich Ebert.
Als die SPD sich im Aufstand der Herero und Nama klar gegen die imperialistische Politik des Kaiserreichs aussprach, verlor sie bei den angesetzten Neuwahlen 1907 etwa ein Drittel ihrer Reichtagssitze. Doch den Generalstreik als politisches Kampfmittel lehnten SPD- und Gewerkschaftsführung weiterhin strikt ab. Darüber zerbrach 1910 Rosa Luxemburgs Freundschaft mit Kautsky.
1912 reiste sie als Vertreterin der SPD zu europäischen Sozialistenkongressen, u.a. in Paris. Mit dem französischen Sozialisten Jean Jaurès sorgte sie dafür, dass die europäischen Arbeiterparteien sich feierlich verpflichteten, beim Kriegsausbruch zum Generalstreik aufzurufen. Als der Krieg mit der Balkankrise 1913 immer wahrscheinlicher wurde, organisierte sie Demonstrationen. In Frankfurt am Main rief sie dabei zu Kriegsdienst- und Befehlsverweigerung auf. Daher wurde sie 1914 der Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze und Anordnungen der Obrigkeit angeklagt und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Sie musste aber die Haft nicht sofort antreten und konnte Ende Juli an einer Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros teilnehmen. Dort erkannte sie : Auch in den europäischen, vor allem den deutschen und französischen Arbeiterparteien war der Nationalismus stärker als das internationale Klassenbewusstsein.
Am 3. August 1914 erklärte das Deutsche Reich Russland den Krieg. Am Tag darauf beschloss die SPD-Fraktion im Reichstag einstimmig die Kriegskredite. Diese Zustimmung ermöglichte die volle Mobilisierung des deutschen Heeres. Zugleich versprach die Partei dem Kaiser einen Streik- und Lohnverzicht während des Krieges. Diese Politik des "Burgfriedens" vertraten die SPD-Abgeordneten, um nicht wieder als "Vaterlandsverräter" zu gelten und den mühsam erkämpften Einfluss im Reichstag nicht zu verlieren.
Rosa Luxemburg erlebte diesen Tag als persönliche Katastrophe und hatte kurze Zeit sogar Selbstmordgedanken. Sie musste erkennen, dass die Politik, die sie seit 1899 bekämpft hatte, gesiegt und das Ja zum Krieg nach sich gezogen hatte.
Engagement im 1. Weltkrieg (1914-1918)
Am 5. August gründete sie mit Karl Liebknecht und einigen anderen Parteilinken, darunter Franz Mehring und Clara Zetkin, die "Gruppe Internationale". Daraus ging 1916 der reichsweite "Spartakusbund" hervor, dessen "Spartakusbriefe" Luxemburg mit Liebknecht zusammen herausgab. In der Novemberrevolution nahm die Gruppe diesen Namen an. Er erinnerte bewusst an den Sklavenanführer Spartacus im antiken römischen Reich. Darin sammelten sich die entschiedensten Kriegsgegner der SPD, die die Stillhaltepolitik vehement ablehnten. Sie versuchten, die Partei zur Rückkehr zu ihren Vorkriegsbeschlüssen zu bewegen und ihr den Generalstreik für Frieden und das Ziel der internationalen proletarischen Revolution nahe zu bringen.
Im Dezember lehnte Karl Liebknecht zunächst als einziger SPD-Reichstagsabgeordneter weitere Kriegskredite gegen die Fraktionsdisziplin ab. Er wurde bald darauf zum Kriegsdienst eingezogen. Rosa Luxemburg musste 1915 ihre Haftstrafe in Berlin antreten. Als sie ein Jahr später entlassen wurde, wurde sie schon drei Monate später wieder, dieses Mal zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Juli 1916 begann ihre "Sicherheitsverwahrung". Sie wurde zweimal verlegt, zuerst nach Posen, dann nach Breslau. Auch Liebknecht war, nachdem er zu einer Antikriegsdemonstration am 1. Mai aufgerufen und dabei geredet hatte, ab 1916 als Hochverräter inhaftiert.
Im Gefängnis setzte Rosa Luxemburg ihr politisches Engagement fort und verfasste einige Aufsätze, die ihre Freunde herausschmuggelten und illegal veröffentlichten: darunter »Die Krise der Sozialdemokratie« unter dem Pseudonym "Junius" (erschienen Juni 1916). Darin rechnete sie mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und der reaktionären Rolle der SPD ab, deren Wesen der Raubkrieg offenbart habe. Lenin kannte diese Schrift und antwortete sofort darauf, ohne zu ahnen, wer sich hinter dem Pseudonym verbarg.
Berühmt wurden auch Rosa Luxemburgs sehr persönliche "Briefe aus dem Gefängnis" an ihre Freundinnen Mathilde Jakob und Sonja Liebknecht.
Im Frühjahr 1917 weckte der Sturz des Zaren in Russland zunächst Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende. Doch die „Menschewiki“ setzten den Krieg gegen Deutschland fort. Dort kam es im März in vielen Städten zu monatelangen Protesten und Massenstreiks: zuerst gegen Mangelwirtschaft, dann gegen Lohnverzicht und schließlich gegen Krieg und Monarchie.
Im April 1917 griffen die USA in den Krieg ein. Nun gründeten die Kriegsgegner, die aus der SPD ausgeschlossen worden waren, die USPD, die rasch Zulauf gewann. Obwohl der Spartakusbund die Parteispaltung bis dahin abgelehnt hatte, trat er der neuen Linkspartei nun bei. Er behielt aber seinen Gruppenstatus, um weiterhin für konsequente Revolution zu werben.
Während die SPD unter Friedrich Ebert im Reichstag erfolglos versuchte, die Oberste Heeresleitung zu Friedensverhandlungen mit US-Präsident Wilson zu gewinnen, ermöglichte diese Lenin die Durchreise aus seinem Schweizer Exil nach St. Petersburg. Dort gewann er die Führung der Bolschewiki und bot den Russen sofortigen Separatfrieden mit Deutschland an. Im Oktober gewannen die Bolschewiki damit eine Mehrheit im Volkskongress, doch nicht in der Duma, dem russischen Nationalparlament. Sie besetzten es, lösten es auf und setzten die Arbeiterräte (Sowjets) als Regierungsorgane ein.
Rosa Luxemburg ließ sich fortlaufend über diese Ereignisse informieren und schrieb dazu den Aufsatz "Die Russische Revolution": Darin begrüßte sie Lenins Umsturzversuch, kritisierte aber zugleich scharf seine Strategie und warnte vor einer Diktatur der Bolschewiki. In diesem Zusammenhang formulierte sie den berühmten Satz: "Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden." Ihre Kritik an Lenin wurde jedoch erst nach ihrem Tod veröffentlicht. Trotz ihrer Vorbehalte rief sie nun unermüdlich zu einer deutschen Revolution nach russischem Vorbild auf und forderte auch eine "Diktatur des Proletariats". Sie grenzte diesen Begriff aber gegen Lenins Parteikonzept ab und verstand darunter die demokratische Eigenaktivität der Arbeiter im Revolutionsprozess, Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung und politische Streiks bis zur Verwirklichung sozialistischer Produktionsverhältnisse.
Novemberrevolution, KPD-Gründung, Tod (1918-1919)
Anfang 1918 kam es in den Rüstungsbetrieben erneut zum wochenlangen Januarstreik, der nur durch Eberts Eintritt in die Streikleitung beendet werden konnte. Damit rückte eine deutsche Revolution nach russischem Vorbild näher, da sich nun unabhängig von beiden Linksparteien eine eigenständige Kraft in den Betrieben gebildet hatte.
Während sich immer mehr Deutsche nach Frieden sehnten und den Krieg nicht mehr mitzutragen bereit waren, setzte die Frühjahrsoffensive der OHL unter General Ludendorff nochmals auf einen "Siegfrieden". Sie endete am 8. August mit dem Durchbruch der Entente an der Westfront. Daraufhin wurden Regierung und Verfassung auf Verlangen der OHL am 5. Oktober umgebildet: Der Reichstag wurde erstmals an der Regierungsbildung beteiligt, Max von Baden wurde Reichskanzler, die SPD trat mit einem Minister in die Regierung ein und diese bat die Entente um Waffenstillstandsverhandlungen.
Die Spartakisten sahen die Verfassungsänderung als Täuschungsmanöver zur Abwehr der kommenden Revolution und stellten nun reichsweit ihre Forderungen nach einem grundlegenden Umbau der Gesellschafts- und Staatsordnung.
Nachdem Admiral Reinhard von Scheer die Flotte eigenmächtig zu einer Entscheidungsschlacht auslaufen lassen wollte, leitete der Kieler Matrosenaufstand Anfang November die Novemberrevolution ein. Sie erreichte am 9. November Berlin, wo an diesem Tag zweimal die Republik ausgerufen wurde, und zwang den Kaiser zur Abdankung. Am 10. November 1918 wählte der neu einberufene Berliner Rätekongress ("Zirkus Busch") den 6-köpfigen "Rat der Volksbeauftragten" mit je 3 Vertretern von SPD und USPD als Übergangsregierung. Zu deren Kontrolle wurde ein "Vollzugsrat" aus 46 Räten gebildet, der ebenfalls paritätisch besetzt war. Außerdem wurde ein Reichsrätekongress geplant, der eine neue Verfassung und Wahlen vorbereiten sollte. Die Umwandlung des Reiches in eine sozialistische Demokratie wurde als Vorlage für dieses Revolutionsparlament beschlossen.
Am selben Tag traf Rosa Luxemburg, die zwei Tage zuvor aus der Breslauer Haft entlassen worden war, in Berlin ein. Der ebenfalls befreite Karl Liebknecht hatte bereits den Spartakusbund reorganisiert. Beide gaben dann gemeinsam die Zeitung "Rote Fahne" heraus, um täglich auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen. In einem ihrer ersten Artikel forderte Rosa Luxemburg über die Amnestie für alle politischen Gefangenen hinaus die Abschaffung der Todesstrafe.
Ebert wollte den geplanten Reichsrätekongress verhindern und beorderte dazu zusätzliches Militär nach Berlin. Bereits am Abend des 10. November hatte er sich heimlich mit Ludendorffs Nachfolger General Wilhelm Groener auf eine Zusammenarbeit gegen die Revolutionäre verständigt. Am 6. Dezember kam es zu ersten Schießereien. Vier Tage später zog die Garde-Kavallerie-Schützendivision in Berlin ein.
Rosa Luxemburg vermutete früh Eberts Bestreben, Reichswehreinheiten gegen Berliner Arbeiter einzusetzen. Sie forderte nun alle Macht für die Räte, die möglichst gewaltlose Entwaffnung und die Umerziehung der heimgekehrten Soldaten.
Der Reichsrätekongress fand vom 16.-20. Dezember ohne die Spartakisten statt. Eine Mehrheit stimmte dort für parlamentarische Wahlen und die Selbstauflösung der Arbeiterräte. Aber man setzte auch eine Kontrollkommission für das Militär und eine "Sozialisierungskommission" ein, um das Regierungsprogramm noch vor den Wahlen umzusetzen und die vielfach geforderte Enteignung kriegswichtiger Großindustrie zu beginnen.
Bei Eberts Versuch, den Berliner Vollzugsrat zu entmachten und das arbeiterfreundliche Volksmarinekorps aufzulösen, kam es am 24. Dezember erneut zu Schießereien. Daraufhin verließ die USPD fünf Tage später die Übergangsregierung. Nun beauftragte Ebert Gustav Noske zur Aufstellung von weiteren Freikorps. Dieser zog immer mehr Militär um Berlin zusammen.
Am 1. Januar 1919 gründeten die Spartakisten und andere linkssozialistische Gruppen aus dem ganzen Reich die KPD. Rosa Luxemburg verfasste ihr Programm und trug es auf der Abschlussversammlung der Delegierten vor. Darin betonte sie, dass Kommunisten die Macht niemals ohne erklärten mehrheitlichen Volkswillen ergreifen könnten und würden. Ihre Empfehlung, an den kommenden Parlamentswahlen teilzunehmen, wurde jedoch mehrheitlich abgelehnt.
Am 5. Januar begann der eine Woche dauernde sogenannte "Spartakusaufstand", der den Linken die entscheidende Niederlage im Revolutionsverlauf beibrachte. Nachdem die SPD-Regierung den Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, ein USPD-Mitglied, abgesetzt hatte, besetzten Arbeiter, die USPD und KPD nahestanden, das Berliner Zeitungsviertel, um zum Generalstreik und zu Eberts Sturz aufzurufen. Waffen wurden ausgegeben und Straßen verbarrikadiert. Karl Liebknecht trat in den "Revolutionsausschuss" ein. Zwei Tage lang wurde das Vorgehen beraten und vergeblich versucht, einige Berliner Regimenter für das eigene Vorhaben zu gewinnen. Die USPD-Vertreter verhandelten mit Ebert, bis bekannt wurde, dass der "Vorwärts" zur "Stunde der Abrechnung" aufrief. Nun brach man die Gespräche ab. Daraufhin setzte Ebert die Reichswehr und die Freikorps gegen die Aufständischen ein. Hunderte von ihnen wurden erschossen: darunter auch viele Unbewaffnete, die sich schon ergeben hatten.
Rosa Luxemburg hatte vor diesen Folgen gewarnt und Liebknecht wegen dieses verfrühten und dilletantischen Aufstandsversuchs scharf kritisiert. Die Spartakusführer mussten nun untertauchen. In Flugblättern war schon seit Anfang Dezember zum Mord an ihnen aufgerufen worden. Großindustrielle hatten damals eine "Antibolschewistische Liga" gegründet, die Industrieverbandschef Hugo Stinnes im Januar mit 500 Millionen Reichsmark ausstattete. Aus diesem Fonds wurden die Anwerbung und Ausrüstung der Freikorps sowie Belohnungen zur Festsetzung und Ermordung von Spartakisten bezahlt.
In ihren letzten Lebenstagen ging es Rosa Luxemburg gesundheitlich sehr schlecht. Aber trotz starker Schmerzen setzte sie ihren täglichen Einsatz für einen Erfolg der Revolution fort. In ihrer letzten Veröffentlichung in der "Roten Fahne" bekräftigte sie nochmals ihr unbedingtes Vertrauen auf das Volk, das aus seinen Niederlagen lernen könne und die künftige Revolution zum Sieg führen werde.
Am 15. Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Wilmersdorf entdeckt, festgenommen und der Garde-Kavallerie-Schützendivision übergeben. Sie wurden im Hotel Eden verhört und schwer misshandelt. Wahrscheinlich nach Rücksprache mit der Regierung - Noske und der Heeresführung - ließ der Kommandant Waldemar Pabst sie anschließend ermorden. Der am Seitenausgang bereitstehende Jäger Otto Wilhelm Runge schlug Rosa Luxemburg beim Abtransport mit einem Gewehrkolben nieder: Dies sollte als spontanes Attentat "aus der Menge" wirken. Der Leutnant Hermann Souchon ermordete sie dann während der Fahrt mit einem aufgesetzten Schläfenschuss. Ihre Leiche wurde in den Landwehrkanal geworfen und dort erst am 1. Juni 1919 aufgefunden. Am 13. Juni wurde sie neben dem Grab von Karl Liebknecht in Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt.
Nachspiele
Seit Jahresbeginn, besonders aber nach den Morden kam es im ganzen Reich zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen, die trotz der Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar bis Ende Mai anhielten. Noske setzte die Freikorps weiter ein und schlug einen Umsturzversuch nach dem anderen nieder. Dabei kam es zu einigen 1000 Toten, darunter vielen profilierten Arbeiterführern und Köpfen der Linken. Die Räterepublik in Bayern, die am 7. November gegründet worden war, konnte sich insgesamt 6 Monate halten.
Den Versuch der Generäle Kapp und Lüttwitz, eine rechtsgerichtete Militärdiktatur zu errichten, konnte ein Generalstreik 1920 noch einmal vereiteln und damit die Demokratie retten. Danach gewann die reaktionäre Rechte immer mehr die Oberhand. Politische Morde gegen als links oder liberal geltende Politiker waren an der Tagesordnung.
In diesem Klima wurden zwar einige der Täter des 15. Januar vor Gericht gestellt, aber ihre Prozesse wurden verschleppt und gegen geringe Strafen eingestellt. Die Mörder kamen - wie viele rechtsgerichtete Straftäter damals - nahezu ungeschoren davon. Die möglichen Auftraggeber wurden nicht einmal verfolgt, zumal Noske selbst die Strafverfolgung der Täter einstellen ließ. Eberts Geheimpakt mit Groener wurde durch Groeners eigene Aussage im "Dolchstoßprozess" 1925 aufgedeckt; ob er außerdem der Ermordung der Spartakisten zustimmte, konnte nie bewiesen werden.
Nach Adolf Hitlers Machtergreifung gewährten die Nationalsozialisten den verurteilten Mördern des 15. Januar 1919 Amnestie und Haftentschädigung. Ihr Anführer Pabst ging straffrei aus. Nach einer Zeit des Exils in der Schweiz kehrte er in die Bundesrepublik zurück, wo er sich den Neonazis anschloss. Er starb 1970. In seinem Nachlass fand sich ein Tagebuch mit folgendem Eintrag:
"Dass ich die Aktion ohne Zustimmung Noskes gar nicht durchführen konnte – mit Ebert im Hintergrund – und auch meine Offiziere schützen musste, ist klar. Aber nur ganz wenige Menschen haben begriffen, warum ich nie vernommen oder unter Anklage gestellt worden bin. Ich habe als Kavalier das Verhalten der damaligen SPD damit quittiert, dass ich 50 Jahre lang das Maul gehalten habe über unsere Zusammenarbeit".
Schon in einem Spiegel-Interview von 1962 hatte Pabst erklärt, Noske habe seine Morde erlaubt, Ebert habe dies und die ausbleibende Strafverfolgung danach gedeckt. Der frühere Chef des Verfassungschutzes Günther Nollau hat versichert, Pabst habe ihm gegenüber die Mordaufträge gestanden. Ob dies eine Schutzbehauptung war, ist umstritten.
Rosa Luxemburgs politisches Denken
Der Marxismus als selbstkritische Methode der Kapitalismusanalyse
Rosa Luxemburg vertrat entschieden die Ideen des Kommunistischen Manifests von Karl Marx. Ihre Auffassung des marxistischen Denkens war jedoch nicht dogmatisch, sondern höchst kritisch:
"Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewahrt."
So schrieb sie zweimal einen größeren Aufsatz über Karl Marx und kam darin zu ganz verschiedenen aktuellen "Anwendungen" seiner Grundideen. Für die Marx-Biographie von Franz Mehring (erschienen 1901) schrieb sie eine bis heute unübertroffene Zusammenfassung des "Kapital". Darin erklärte sie höchst anschaulich das Entstehen des Profits aus dem Lohngesetz, das dem Arbeiter immer einen Teil des Gegenwerts seines Produkts vorenthält (Band 1);
die Konkurrenzgesetze des Marktes, die den Unternehmer zwingen, seinen Profit wiederum gewinnbringend zu "realisieren", sowie das Kreditsystem, das Produktionsprozess und Warenverkehr in Gang hält (Band 2);
das Gesetz der "durchschnittlichen Profitrate", das die Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums bedingt und die zwangsläufig auftretenden "Krisen" in der kapitalistischen Ökonomie hervorruft (Band 3).
Diese Gesetzmäßigkeiten begründeten für sie die grundlegende Klassensolidarität der Kapitaleigner gegenüber den Produzenten, so dass die Überwindung von struktureller Ausbeutung nur durch die Aufhebung von Lohnarbeit und Klassenherrschaft denkbar ist .
Gemäß ihrer selbstkritischen Anwendung seiner Theorie gestand sie freimütig, dass Marx die ökonomischen Krisen nicht zureichend erklären konnte. In diese Lücke stieß ihr eigenes Hauptwerk vor: "Die Akkumulation des Kapitals", erschienen 1913. Darin trieb sie die marxistische Analyse der Funktionsmechanismen des Kapitalismus unter den Bedingungen des vom Imperialismus beherrschten Weltmarkts weiter voran.
Aus ihrer Arbeit als Parteidozentin ging ferner die "Einführung in die Nationalökonomie" hervor (begonnen 1907, im Gefängnis 1916 fortgesetzt, erschienen posthum 1925), die die materialistische Geschichtsauffassung, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie und die Perspektive des revolutionären Sozialismus wiederum selbstkritisch, auf höchstem Niveau und zugleich allgemeinverständlich darstellte.
Sie gilt daher besonders seit dem Fall der Sowjetunion als eine, wenn nicht die legitime Vertreterin genuin marxistischen Denkens, die es zugleich originär weiterentwickelt hat.
Die Bekämpfung des Reformismus
Ein Jahr nach Aufhebung der Sozialistengesetze beschloss die SPD auf dem Parteitag in Erfurt 1891 ein neues Programm. Die Theorie, verfasst von Karl Kautsky, schrieb das Ziel einer langfristigen sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft fest. Der praktische Teil, verfasst von Eduard Bernstein, forderte allmähliche Erweiterung politischer Rechte, unter anderem das Frauenwahlrecht, kostenlose Allgemeinbildung, Arbeitsschutz, ein staatliches Gesundheitswesen.
Auf dem Weg zur Massenpartei wuchs in der SPD eine Schicht von Abgeordneten und Verwaltungsbeamten heran, die von ihren Posten lebten. Als Bernstein ab 1896 seine Artikelreihe zur Revision der Marxschen Zusammenbruchstheorie veröffentlichte, traf er deren Interessenlage. Er folgerte aus dem zeitweisen Ausbleiben von Krisen, dass der Kapitalismus sich als unerwartet dauerhaft erwiesen habe. Die SPD müsse ihre revolutionären Ziele daher aufgeben und sich ganz auf Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter konzentrieren: "Das Ziel ist mir nichts, die Bewegung ist alles."
Während der Parteivorstand den schwelenden Konflikt harmonisieren wollte, erkannte Rosa Luxemburg sofort, dass Bernstein damit den Existenzgrund der Sozialdemokratie angriff. Ihre Broschüre "Sozialreform oder Revolution" fasste ihre Antwort darauf zusammen:
Hätte Bernstein Recht, wäre die Sozialdemokratie überflüssig. Die automatische gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums sei jedoch Utopie. Darauf zu warten verurteile die SPD wie Don Quichotte zum Scheitern.
Kartelle, Trusts, Aktiengesellschaften bewiesen nicht die allmähliche Selbstkontrolle und Demokratisierung des Kapitals, sondern seien Teil seines Konzentrationsprozesses.
Kommende Krisen seien unausweichlich, da die Produktivität ständig wachse, während der Weltmarkt dies nicht tun könne. Das zeitweise Ausbleiben von Krisen (das deutsche Reich erlebte damals bis 1910 eine längere Hochkonjunktur) widerlege Marx daher nicht.
Gewerkschaften könnten nur im Rahmen des Lohngesetzes ein möglichst großes Stück vom "Kuchen" des Unternehmerprofits abzuschneiden versuchen, aber damit die Ausbeutung nie überwinden.
Die Sozialdemokratie sei in der bürgerlichen Gesellschaft nur geduldet, solange sie stillhalte. Erst im Zusammenbruch des kapitalistischen Systems werde man ihr eine Machtbeteiligung erlauben.
Deshalb sei und bleibe die Revolution unbedingt notwendig. Die SPD müsse die Führung im Aufbau des nötigen Klassenbewusstseins übernehmen und die Selbsttätigkeit der Arbeiter fördern, nicht blockieren.
Diese teilweise prophetischen Sätze kränkten damals viele Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, die sich Anerkennung durch Anpassung im Kaiserreich und Stimmengewinne durch Verzicht auf Revolution erhofften. Rosa Luxemburg stellte die Umwälzung der Produktionsverhältnisse damit aber nicht gegen den Alltagskampf für bessere Lebensbedingungen, sondern vertrat ein Ineinandergreifen beider Seiten des proletarischen Selbstbefreiungskampfes. Die Reformen sollten auch der politischen Bewusstseinsbildung der Arbeiter dienen und die Instrumentalisierung der SPD zum Klassenerhalt des Bürgertums verhindern.
Solidarität mit und Kritik an der Oktoberrevolution
Gleich nach der russischen Februarrevolution 1917, die den Zaren stürzte, schrieb Rosa Luxemburg einen Artikel darüber (Die Revolution in Russland, GW 4). Darin hob sie hervor, dass die Ereignisse in Wahrheit eine Revolution des Proletariats seien. Dessen Machtentfaltung habe zunächst die liberale Bourgeoisie an die Spitze der revolutionären Bewegung gestoßen. Aufgabe des russischen Proletariats sei nun, den imperialistischen Krieg zu beenden. Dazu aber müsse es gegen die eigene Bourgeoisie kämpfen, die den Krieg unbedingt brauchte und fortsetzen wollte. Der Krieg selber habe Russland reif für die sozialistische Revolution gemacht. Damit sei allerdings "auch das deutsche Proletariat (...) vor eine Ehrenfrage und eine Schicksalsfrage gestellt." (Ebd., S. 245)
Rosa Luxemburg sah hier die folgende Entwicklung exakt voraus und forderte eine weitere Revolution im Russischen Reich, um den Krieg zu beenden. Tatsächlich konnten sich die Menschewiki nicht einigen, gemeinsam den Krieg zu beenden. Sie waren ebenso wie die deutschen und französischen Sozialdemokraten im Nationalismus befangen, setzten „Frieden“ mit „Niederlage“ gleich und wollten Vorteile für ihr Land erobern. - Aber Rosa Luxemburg war auch klar, dass die Basis für eine erfolgreiche Revolution in Russland schwach war: Dort war das städtische Industrieproletariat viel weniger ausgeprägt als das rückständige ländliche Kleinbauertum. Daher setzte sie ebenso wie Lenin voraus, dass sein Umsturz nur Erfolg haben würde, wenn die deutsche Arbeiterklasse ebenfalls gegen den Krieg und für den Sozialismus aufstehen werde. Diese praktische Zusammenführung der russischen und deutschen Arbeiterbewegung zu einer gesamteuropäischen Revolution sah sie als ihre eigentliche Lebensaufgabe an.
Um den Krieg beenden zu können, musste Lenin das russische Parlament, die Duma zunächst auflösen und die Macht erobern. Rosa Luxemburg befürwortete dies, erkannte aber sofort, dass er damit nicht nur die „bürgerlichen“ Parteien, sondern auch die innerparteiliche Demokratie zu unterdrücken begann. Darum kritisierte sie bereits kurz nach der Oktoberrevolution sehr klar und scharf die Tendenz der Bolschewiki zur Diktatur. Denn Lenin glaubte, dass freie Diskussion und abweichende Meinungen „bürgerliche“ Relikte seien, die durch die „Diktatur des Proletariats“ (sprich: die Alleinherrschaft seiner Partei) überwunden werden müssten. Dies drohte auch die unbedingt nötige Mitwirkung und Führung der Arbeiter beim Aufbau des Sozialismus schon im Ansatz zu ersticken. Dagegen schrieb sie ihre berühmten Sätze:
"Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der 'Gerechtigkeit', sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die 'Freiheit' zum Privilegium wird."
Doch stellte sie die Tendenz der Bolschewiki zu Diktatur und Privilegierung der revolutionären Elite sofort in einen historischen Kontext und erklärte sie aus dem "völlige(n) Versagen des internationalen Proletariats" – vor allem der SPD – gegenüber dem imperialistischen Krieg (Zur russischen Revolution, GW 4, S. 334). Trotz aller nötigen und berechtigten Kritik bleibe es Lenins Verdienst, die Revolution gewagt zu haben. Damit habe er den welthistorischen Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital international aufgerissen und bewusst gemacht:
"In diesem Aufreißen des sozialen Abgrunds im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft, in dieser internationalen Vertiefung und Zuspitzung des Klassengegensatzes liegt das geschichtliche Verdienst des Bolschewismus, und in diesem Werk – wie immer in großen historischen Zusammenhängen – verschwinden wesenlos alle besonderen Fehler und Irrtümer der Bolschewiki." (Fragment über Krieg, nationale Frage und Revolution, GW 4, S. 366)
Nach der Oktoberrevolution werde es zur "geschichtlichen Verantwortung" der deutschen Arbeiter, nun selbst die Revolution zu machen und so den Krieg zu beenden (GW 4, S. 374). So sah sie zwischen Lenins Revolutionsversuch und den deutschen Massenstreiks für Frieden im Januar 1918 einen engen historischen Zusammenhang, versuchte ihn den Deutschen bewusst zu machen und aus dem Gefängnis heraus nach Kräften zu fördern.
Als die deutschen Volksaufstände im November 1918 den Kaiser entmachtet und zur Flucht gezwungen hatten, agitierte Rosa sofort wieder für die proletarische Revolution:
"Die Abschaffung der Kapitalsherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung – dies und nichts Geringeres ist das geschichtliche Thema der gegenwärtigen Revolution. Ein gewaltiges Werk, das nicht im Handumdrehen durch ein paar Dekrete von oben herab vollbracht, das nur durch die eigene bewusste Aktion der Masse der Arbeitenden in Stadt und Land ins Leben gerufen, das nur durch höchste geistige Reife und unerschöpflichen Idealismus der Volksmassen durch alle Stürme glücklich in den Hafen gebracht werden kann." (Der Anfang, GW 4, S. 397)
Anfang Dezember hatte Ebert den "Vollzugsrat", der den Rat der Volksbeauftragten" kontrollieren sollte, schon entmachtet. Nun forderte Rosa Luxemburg: Die Revolution verlange, dass die ganze Macht in die Hände der Masse, d.h. der Arbeiter- und Soldatenräte fällt. Das sei ihr Programm. Doch vom Soldaten – dem "Gendarmen der Reaktion" – zum revolutionären Proletarier sei noch ein weiter Weg. Das hieß: Das Militär, das bisher dem „Vaterland“ diente, muss erst noch lernen, seine Macht den Arbeitern unterzuordnen. Es muss also der politischen Kontrolle der Arbeiterräte unterstellt werden.
Dies wurde von der SPD-Führung verhindert, indem Ebert mit Reichswehrgeneral Groener gegen seine eigenen Wähler paktierte. Darauf reagierten die „Roten“ mit der Gründung der KPD. Diese stritt von Beginn an um ihr Verhältnis zum Parlamentarismus. Rosa Luxemburg warb erfolglos für ihre Teilnahme an den Wahlen zum Weimarer Reichstag, um auch dort auf Fortsetzung der Revolution hinzuwirken. Denn "Demokratie" und "Sozialismus" waren für sie letztlich dasselbe:
"Das Proletariat (...) ,wenn es die Macht (parlamentarisch!) ergreift, (...) soll und muß eben sofort sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen, also Diktatur ausüben; aber Diktatur der KLASSE, nicht einer Partei oder Clique, Diktatur der Klasse, d.h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie."
Die Dialektik von Spontaneität und Organisation im Klassenkampf
In Rosas Luxemburgs Auffassung des Klassenkampfes ist die Wechselwirkung von Spontaneität und Organisation der Arbeiterklasse zentral. Deren spontanes, ungeplantes, auf aktuelle Herausforderungen reagierendes Handeln (z.B. Streiks gegen Lohnkürzungen) und ihre Organisationen (Gewerkschaften und Parteien) sind nicht von einander getrennt oder trennbar, sondern für sie zwei verschiedene „Momente“ des selben Prozesses, die einander bedingen.
Der elementare, spontane Klassenkampf selber schafft die theoretischen Einsichten über die historische Aufgabe des Proletariats. Und diese Einsichten heben den praktischen Kampf wiederum auf eine höhere Stufe. Durch den Kampf selbst gewinnen die Arbeiter die Erkenntnis der Aufgaben und Ziele ihrer Klasse. Dieser Lernprozess wirkt wiederum auf ihr Handeln zurück und verändert dessen Richtung zu immer konsequenteren, umfassenderen Zielen („Fortschritt“). Damit wollte Rosa Luxemburg zweierlei abwehren:
1. eine Alltagsarbeit der Arbeiterparteien und Gewerkschaften, die das Ziel der internationalen sozialistischen Revolution verliert und aufgibt („Opportunismus“, „Reformismus“, "Revisionismus");
2. Organisationsformen, die abheben, nicht mehr die wahren Arbeiterinteressen vertreten und diktatorisch erstarren („Zentralismus“, „Bürokratismus“).
Die produzierende Klasse selber ist und bleibt nach ihrer Auffassung das Subjekt der Revolution. Der "Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus" lässt sich also nicht theoretisch planen und von einer Eliteorganisation erzwingen, wenn die Arbeiterschaft selbst dazu nicht bereit, fähig und reif ist.
"Die Arbeiterklasse in allen Ländern lernt erst im Verlaufe ihres Kampfes kämpfen. (...) Die Sozialdemokratie (...), die nur die Vorhut des Proletariats ist, ein Teil der ganzen arbeitenden Masse, das Blut aus ihrem Blut und Fleisch von ihrem Fleische, diese Sozialdemokratie sucht und findet die Wege und besonderen Losungen des Arbeiterkampfes lediglich im Maße der Entwicklung dieses Kampfes, wobei sie aus diesem Kampf allein die Hinweise für den weiteren Weg schöpft." (In revolutionärer Stunde: Was weiter?, GW 1.2, S. 554)
Diese Spontaneität ist aber immer schon durch Organisation vermittelt, so wie Organisation sich durch Spontaneität vermitteln muss. Das heißt: Der Klassenkampf selbst schafft die Organisationen, die diesen Kampf weiterführen. Ohne eine Partei, die ihre Interessen politisch formuliert und unterstützt - nicht „vertritt“ - hätten spontane Arbeiterstreiks nur vorübergehend Erfolg, aber keine dauerhafte, die Gesellschaft insgesamt verändernde Kraft und Wirkung. Aber auch: Ohne diesen spontanen Kampf der Arbeiter selber würden deren Organisationen ihre Stoßrichtung, das politische Ziel des Sozialismus, alsbald wieder verlieren.
Die Geschichtsdeutung der DDR hat Rosa Luxemburg einen abstrakten 'Spontaneismus' vorgeworfen, der angeblich zum Scheitern der Novemberrevolution beitrug. Doch wie aus den Zitaten hervorgeht, wollte sie mit der Eigenaktivität der Arbeiter deren Organisationen stärken, so dass ihre Parteien das Gesamtinteresse des Proletariats immer wirksamer ausdrücken und durchsetzen können.
Diese Theorie des Klassenkampfes entstand ihrerseits nicht akademisch, sondern in Folge der realen Ereignisse. Um 1900 brachen in Europa, besonders in Russland und Polen immer mehr und größere Massenstreiks aus. Sie führten zur russischen Revolution von 1905, in deren Verlauf der Zar dem Volk teilweise demokratische Rechte – wie die Gründung eigener Parteien – zugestehen musste. Unter diesem Eindruck entwickelte Rosa Luxemburg als Parteidozentin der SPD ihre „Dialektik“ des Klassenkampfs, der auch ihre Haltung in der "Massenstreikdebatte" bestimmte. Dabei versuchte sie, die Erfahrungen der russischen und polnischen Arbeiter für die SPD zu nutzen und fruchtbar zu machen.
"Die moderne proletarische Klasse führt ihren Kampf nicht nach irgendeinem fertigen, in einem Buch, in einer Theorie niedergelegten Schema; der moderne Arbeiterkampf ist ein Stück in der Geschichte, ein Stück der Sozialentwicklung, und mitten in der Geschichte, mitten in der Entwicklung, mitten im Kampf lernen wir, wie wir kämpfen müssen. (...) Das ist ja gerade das Bewundernswerte, das ist ja gerade das Epochemachende dieses kolossalen Kulturwerks, das in der modernen Arbeiterbewegung liegt: dass zuerst die gewaltige Masse des arbeitenden Volkes selbst aus eigenem Bewusstsein, aus eigener Überzeugung und auch aus eigenem Verständnis sich die Waffen zu ihrer eigenen Befreiung schmiedet." (Der politische Massenstreik und die Gewerkschaften, GW 2, S. 465)
---Die Rolle der Arbeiterpartei---
Rosa Luxemburgs Kritik am Reformismus in der SPD und am Zentralismus in Lenins Partei sind zwei Seiten derselben Medaille: Sie erklären sich aus ihrer Theorie des Klassenkampfes. Sie verstand die Rolle der Arbeiterpartei als „Vorhut“ der Arbeiterklasse. Diese ist unmöglich von der Eigenbewegung dieser Klasse zu trennen, sondern geht aus ihr hervor und drückt sie bewusst aus. Der Kampf der Arbeiter schafft sich die ihm gemäße Organisationsform, nicht umgekehrt. Dann, hoffte sie, kann sich das Partei-Interesse nicht gegen das Arbeiterinteresse stellen und verkehren.
Die Arbeiterpartei hat der arbeitenden Masse nur die Einsicht in die Notwendigkeit der Revolution und des Sozialismus voraus. Sie war für Rosa Luxemburg daher nicht – anders als für die orthodoxen Sozialdemokraten der 2. Internationale – Folge der wissenschaftlichen Einsicht in die historische Notwendigkeit des Sozialismus, also ein Konstrukt des Geistes. Sondern sie sah die Partei als Produkt des tatsächlich praktizierten, teils spontanen, teils organisierten Klassenkampfes. Nicht der Kopf schafft die Hand, sondern die Hände beflügeln das Denken des Kopfes zu immer wirksameren Taten.
"Die Sozialdemokratie ist nichts anderes als die Verkörperung des Klassenkampfes des modernen Proletariats, der vom Bewusstsein über seine historischen Konsequenzen getragen wird. Ihr eigentlicher Führer ist in Wirklichkeit die Masse selbst, und zwar dialektisch in ihrem Entwicklungsprozess aufgefasst. Je mehr sich die Sozialdemokratie entwickelt, wächst, erstarkt, um so mehr nimmt die aufgeklärte Arbeitermasse mit jedem Tage ihre Schicksale, die Leitung ihrer Gesamtbewegung, die Bestimmung ihrer Richtlinien in die eigene Hand. Und wie die Sozialdemokratie im ganzen nur die bewusste Vorhut der proletarischen Klassenbewegung ist, die nach den Worten des Kommunistischen Manifestes in jedem Einzelmoment des Kampfes die dauernden Interessen der Befreiung und jedem partiellen Gruppeninteresse der Arbeiterschaft gegenüber die Interessen der Gesamtbewegung vertritt, so sind innerhalb der Sozialdemokratie ihre Führer um so mächtiger, um so einflussreicher, je klarer und bewusster sie sich selbst nur zum Sprachrohr des Willens und Strebens der aufgeklärten Massen, nur zu Trägern der objektiven Gesetze der Klassenbewegung machen." (Der politische Führer der deutschen Arbeiterklasse, GW 2, S. 280).
Sie kann dieses Bewusstsein nur verbreitern, zuspitzen, fördern, aber nicht eigentlich schaffen. Das tun vielmehr die inneren Widersprüche des Kapitalismus, der Gegensatz von Kapital und Arbeit. Dieser setzt immer wieder die proletarische Revolution auf die politische Tagesordnung. Diese selbst, nicht die Partei, wird die Massen zu Revolutionären schulen:
"Die Geschichte ist die einzige wahre Lehrmeisterin, die Revolution ist die beste Schule des Proletariats. Sie werden dafür sorgen, dass die 'kleine Schar' der Meistverleumdeten und -verfolgten Schritt um Schritt zu dem wird, wozu ihre Weltanschauung sie bestimmt: zur kämpfenden und siegenden Masse des revoluti-onären sozialistischen Proletariats." (GW 4, S. 478)
Aufgabe der Partei ist es, die rückständigen Massen zur Selbständigkeit zu erziehen, sie zu befähigen, selbst die Macht zu übernehmen. Sie kann nur das Bewusstsein der Arbeiterklasse über ihre historische Mission – das „subjektive“ Element – schulen. Die Umwandlung der Produktionsverhältnisse – das „objektive“ Sein – aber kann nur die Arbeiterklasse selbst vollbringen.
Die Bekämpfung der falschen Interessenvertretung
Eine Partei, die die Arbeiter „vertritt“ und bevormundet – etwa in Parlamenten oder in einem „Politbüro“ – und nicht mit ihnen, sondern an ihrer Stelle handelt, wird - das wusste Rosa Luxemburg aus bitterer Erfahrung - zwangsläufig nicht mehr für, sondern gegen sie handeln. Sie wird dann selbst zum Werkzeug derer, die die Revolution verhindern und ihre Erfolge zurückdrehen wollen. Dann müssen die Arbeiter auch eine so genannte „Arbeiterpartei“ bekämpfen.
So schrieb Rosa Luxemburg in der "Roten Fahne" vom 21. Dezember 1918: "In allen früheren Revolutionen traten die Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken... In der heutigen Revolution treten die Schutzgruppen der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klassen, sondern unter der Fahne einer sozialdemokratischen Partei in die Schranken. Würde die Kardinalfrage der Revolution offen und ehrlich: Kapitalismus oder Sozialismus lauten, ein Zweifel, ein Schwanken wäre in der großen Masse des Proletariats heute unmöglich."
Guy Debord kommentierte dies in "Die Gesellschaft des Spektakels" wie folgt:
"Wenige Tage vor ihrer Zerstörung entdeckte die radikale Strömung des deutschen Proletariats so das Geheimnis der neuen Bedingungen, die der gesamte vorherige Prozess geschaffen (und zu dem die Repräsentation der Arbeiter erheblich beigetragen) hatte: die spektakuläre Organisation der Verteidigung der bestehenden Ordnung, das gesellschaftliche Reich des Scheins, wo keine »Kardinalfrage« mehr »offen und ehrlich« gestellt werden kann. Die Repräsentation des Proletariats (die SPD-Führung) war in diesem Stadium zugleich der Hauptfaktor und das zentrale Ergebnis der allgemeinen Verfälschung der Gesellschaft geworden."
Darum müssen die Arbeiter den direkten Klassenkampf in der bürgerlichen Demokratie unbedingt fortsetzen. Er kann sich je nach den historischen Umständen in Parlamenten, aber auch gegen sie oder beides zugleich vollziehen. Tatsächlich hätte nur diese gesteigerte und durchgehaltene Eigenaktivität die SPD- und KPD-Führer vor dem "Abheben" im Verlauf der Novemberrevolution bewahren können. 1920 verhinderte nur ein Generalstreik noch einmal eine rechte Militärdiktatur und erzwang den Rücktritt der Generäle (Kapp-Lüttwitz-Putsch).
Doch dann lähmten die Parteiführer der Linken ihre Wähler, indem sie sich als einzig wahre Arbeitervertreter darstellten, sich gegenseitig verteufelten und erbittert bekämpften: mehr als den gemeinsamen Gegner. So gewann die Rechte die Vorhand – bis hin zur Abschaffung der Demokratie durch Paul von Hindenburg, Heinrich Brüning und Adolf Hitler.
Der Glaube an die proletarische Revolution
Rosa Luxemburgs letzte überlieferte Worte, geschrieben am Vorabend ihrer Ermordung, zeigen noch einmal ultimativ ihren Glauben an die Massen und an die unausweichliche Notwendigkeit der sozialistischen Revolution:
"Die Führung hat versagt. Aber die Führung kann und muss von den Massen und aus den Massen heraus neu geschaffen werden. Die Massen sind das Entscheidende, sie sind der Fels, auf dem der Endsieg der Revolution errichtet wird. Die Massen waren auf der Höhe, sie haben diese 'Niederlage' zu einem Glied jener historischen Niederlagen gestaltet, die der Stolz und die Kraft des internationalen Sozialismus sind. Und darum wird aus dieser 'Niederlage' der künftige Sieg erblühen. – 'Ordnung herrscht in Berlin!' Ihr stumpfen Schergen! Eure 'Ordnung' ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon 'rasselnd wieder in die Höhe richten' und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!" (GW 4, S. 536)
Ihre Kritik an der Führung betraf nicht nur Friedrich Ebert, sondern auch Hugo Haase (USPD) und Karl Liebknecht (KPD), deren Besetzungsaktion im Januar 1919 miserabel geplant war. Eine riesige Menge wartender Demonstranten war damals bereit, die anrückenden Soldaten zu blockieren und zu entwaffnen, wurde aber von den Besetzern nicht einbezogen.
Rosa Luxemburgs Schluss-Satz entstammt der Bibel: Er umschreibt den Namen Gottes. Dieser wurde in der Befreiungsgeschichte des jüdischen Volkes offenbar (Exodus 3, 14): „Ich bin der `Ich bin´!“ oder, futurisch übersetzt, „Ich werde sein, der ich sein werde!“ Die Posaune erschallt als Fanfare des „jüngsten Gerichts“, das in historischen Befreiungskämpfen vorscheint (z.B. im Fall Jerichos Josua 6): Dann wird endgültig abgerechnet, werden alle Gewaltherrscher entmachtet, alle Kriegsmittel abgerüstet, Armeen aufgelöst, ungerechte Besitzverhältnisse umgewälzt, weltweit ewige Gerechtigkeit geschaffen (z.B. in der Vision vom Endgericht Daniel 7).
Die soziale Revolution war für sie also das, was der jüdisch-christliche Glaube „Reich Gottes“ nennt: eine endgültige Befreiung aller Menschen von ungerechten Verhältnissen. Sie „beerbte“ diese Tradition ebenso wie Karl Marx, indem sie umfassende irdische Gerechtigkeit als historische Tendenz aller Klassenkämpfe erhoffte und dafür kämpfte.
Wird diese jedoch nicht geschaffen, dann – auch das sah sie sehr klar voraus – droht der Menschheit ein Rückfall in unvorstellbare Barbarei. Das Bewusstsein dieses Entweder-Oder ist eine entscheidende Triebfeder zum Handeln. „Von allein“ kommt gar nichts! Dabei sind Rückschläge und Niederlagen des arbeitenden Volkes für dessen Lernprozess besonders wichtig: Gerade sie können das historische Bewusstsein für die unvermeidbare Notwendigkeit der Revolution schärfen. Nicht erst der „Endsieg“, sondern schon der immer neue Versuch, ihn herbeizuführen, ist daher der „Stolz“ der Arbeiterbewegung.
Rosa Luxemburgs Marxismus ist ein Glaube an die unzerstörbare Fähigkeit der Menschen, ihre Geschichte selbst zu bestimmen und zu einem Ziel zu führen, das alle, nicht nur eine Minderheit, vom Joch der Klassenherrschaft befreit. Dieser Glaube schöpft seine Kraft aus den realen historischen Anläufen und sozialen Bewegungen zu einer gerechten Weltgesellschaft.
Rosa Luxemburgs Wirkung und Rezeption
Rosa Luxemburg vertraute zeitlebens auf die ständige Lernfähigkeit der arbeitenden Menschen. Sie hatte ihre proletarische Überzeugung in der Zeit der Massenstreiks in Polen und Russland seit 1900 gefestigt. Ihr Internationalismus im Rahmen der SPD als führender Partei der europäischen Sozialisten war weitsichtig und auf eine praktische Kriegsverhinderung ausgerichtet. Darin war sie mit Lenin einig. Aber anders als dieser glaubte sie nicht an einen Automatismus oder gar Determinismus der internationalen Revolution im Gefolge der Verelendung und des Zusammenbruchs des Kapital-Herrschaft durch den Krieg.
Ihr Vertrauen auf die Spontaneität der Arbeiterklasse, die aus ihren Niederlagen lernt, wurde im Kriegsverlauf bestätigt. Aus den Enttäuschungen mit der SPD-Führung entstanden neue, ungeahnte Formen der Selbstorganisation besonders bei den Arbeitern der deutschen Rüstungsindustrie. Ihnen fehlte jedoch eine parteipolitisch wirksame Organisation. Die Spartakisten waren unter dem Druck der Illegalität nicht in der Lage, die USPD und die Rätebewegung rechtzeitig auf gemeinsames revolutionäres Handeln hin zu orientieren. Im Scheitern der Novemberrevolution zeigte sich, dass Spontaneität und Organisation nicht aufeinander abgestimmt handelten, so dass die Gegenrevolution siegte.
Die Morde an den beiden Spartakusführern gehören vermutlich zu den folgenreichsten politischen Morden des 20. Jahrhunderts. Denn mit ihnen begann die unversöhnliche Feindschaft zwischen SPD und KPD in der Weimarer Zeit, die Adolf Hitlers Aufstieg begünstigt hat. Mit ihnen war die Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus, der demokratische Reformen und revolutionäre Umgestaltung der Produktionsverhältnisse verbindet, nachhaltig zerbrochen.
Das Scheitern der deutschen Revolution wirkte auch auf die sowjetische Entwicklung zurück: Lenin, der die russische Oktoberrevolution im festen Vertrauen auf den Erfolg der deutschen Sozialisten gewagt hatte, nahm infolge des Bürgerkriegs nach dem Kronstädter Aufstand die Rätedemokratie auf Betriebsebene 1921 wieder zurück und verordnete die "Neue Ökonomische Politik", um seine Macht zu stabilisieren. Damit ebnete er seinem Nachfolger Stalin den Weg zur Alleinregierung. Unter diesem pervertierte der Marxismus zu einer totalitären Herrschaftsideologie und Absicherung der Ein-Parteien-Diktatur mit bürokratisch-feudalistischen Zügen, Geheimpolizei-Terror, Arbeitslagern und Deportationen, Nationalismus, Militarismus, brutaler Industrialisierung und einem faschistoiden Personenkult.
Anfangs verehrte die junge Sowjetunion Rosa Luxemburg als eins ihrer besten Vorbilder und Verbündeten. Da ihre Imperialismus-Theorie jedoch von der Lenins abwich, sie seine Strategie bereits unmittelbar nach der Oktoberrevolution angegriffen hatte und die deutschen Reformisten dies stets als antikommunistische Munition benutzten, wurde sie bald auch dort ideologisch und politisch herabgesetzt. Stalin schrieb ihr 1931 die Erfindung der Theorie von der "permanenten Revolution" zu und unterstellte ihr damit entgegen der Fakten nachträglich eine verschwörerische Feindseligkeit gegen Lenins Revolutionsversuch. Trotzki nahm sie dagegen 1932 in Schutz. Fortan wurden ihre Positionen zur Spontaneität der Arbeiterklasse und zur Rolle der Partei im Staatskommunismus des Ostblocks stets als "Luxemburgismus" denunziert.
Rosa Luxemburg hatte immer die Einheit und Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse und die Abhängigkeit der Arbeiterorganisationen von dieser Basis betont, um deren Verselbstständigung zu verhindern. Doch seit 1923 verteufelten sich Sozialdemokraten und Kommunisten zunehmend gegenseitig mit Totalitarismus- bzw. Sozialfaschismus-Thesen. Wegen der engen Bindung der KPD an die Kommunistische Internationale unter Führung Stalins wies die SPD ihre späten Angebote an eine gemeinsame "Volksfront" gegen die Harzburger Front der erstarkenden Rechtsparteien 1931 zurück.
In der DDR wurde aus diesem Versagen nach sowjetischem Muster die Zwangsvereinigung von Ost-SPD und KPD zur SED abgeleitet. Die demokratische Herrschaft der Arbeiterklasse über Wirtschaft, Gesellschaft und Staat wurde dekretiert und nicht realisiert. Dies machte der 17. Juni 1953 offenkundig. Rosa Luxemburgs Gesamtwerk wurde in der DDR erst seit 1970 veröffentlicht. Schriften, die ihre Kritik an Lenin, ihre radikaldemokratische, staatskritische und tendenziell pazifistische Haltung zeigten, wurden dabei stets als "Irrtümer" zensiert.
In einigen Ländern der blockfreien Bewegung wie dem früheren Jugoslawien unter Tito war der Todestag Rosa Luxemburgs ein gesetzlicher Feiertag. In den Demokratisierungsbewegungen und Reformanläufen im Ostblock spielte sie oft eine Rolle als Vorbild, auf das man sich gegen die eigenen Chefideologen berufen konnte. Je mehr die Opposition aber einen Systemwechsel anstrebte, desto mehr wurden der Marxismus insgesamt und damit auch Luxemburgs politische Ideen und Ziele abgelehnt.
Andererseits fand ihr Denken besonders in der "Neuen Linken" der 60-ger Jahre viele begeisterte Anhänger. Rudi Dutschke übernahm ihr Verständnis von Sozialismus als lebendiger, antiautoritärer, radikaler, von allen arbeitenden Menschen getragenen Demokratie ebenso wie viele linke Intellektuelle in Frankreich. Aber auch Revolutionäre in Ländern der sogenannten "3. Welt" bezogen sich auf ihren Marxismus, der nicht moskauhörig sein und ihren Völkern eine Perspektive jenseits von Kapitalismus und Stalinismus eröffnen sollte.
Die SPD hat ihr Verhältnis zu Rosa Luxemburg bis heute nicht wirklich geklärt und Eberts Verhalten während der Novemberrevolution trotz scharfer Kritik auch aus den eigenen Reihen nie grundsätzlich verurteilt. Mit dem Parteitag von Bad Godesberg schloss sie 1959 die Reste des Marxismus, die nach 1945 erneut plausibel erschienen, aus ihrem Parteiprogramm aus. Unter Willy Brandt und Erhard Eppler wurde zwar teilweise ein "demokratischer Sozialismus" propagiert, der jedoch längst keine Sozialisierung von Produktionsmitteln mehr anstrebte.
Nur die Jungsozialisten haben bis weit in die 70-ger Jahre hinein marxistische Theoreme hochgehalten und sich dabei häufig auch auf Rosa Luxemburg berufen. Parteilinke wie Peter von Oertzen haben die Rätebewegung der Novemberrevolution gründlich erforscht und kamen zu dem Ergebnis, dass diese Demokratisierung der Großbetriebe eine ungelenkte, aus der krisenhaften Zuspitzung der Verhältnisse geborene spontane Entwicklung war, die Luxemburgs Thesen von der "Spontaneität" der Arbeiterklasse eindrucksvoll belegt habe.
Auffällig ist das erneute Interesse an Rosa Luxemburg in der Volksrepublik China. Im November 2004 fand in Kanton (China) ein Kongress zu ihr statt.
Die PDS hat seit der deutschen Einheit 1990 einen Lernprozess hinter sich und versucht, sich von ihren SED-Wurzeln zu lösen. Große Teile ihrer Wählerbasis sind jedoch weiterhin einer rückwärtsgewandten Idealisierung der DDR verhaftet. Der Todestag Rosa Luxemburgs ist ein jährlich wiederkehrendes Demonstrationsdatum in Berlin geworden.
Die Frauen-, die antimilitaristische Friedensbewegung und die Globalisierungskritiker finden in Rosa Luxemburg eine bedeutende Vorkämpferin. Dabei werden oft Einzelideen aus dem Gesamtkontext ihres Denkens und Handelns herausgelöst. Ihre Vision eines klassenbewussten Internationalismus, der der Selbstvernichtung der Völker im Zwang der Kapitalverwertung wirksam widersteht, ist unverändert aktuell und unerfüllt.
Literatur
Biographien
Paul Frölich: Rosa Luxemburg - Gedanke und Tat. Europäische Verlagsanstalt, Hannover 1991 ISBN 343445036X (Erstausgabe: Oetinger Verlag 1949)
Peter Nettl, Rosa Luxemburg, Frankfurt am Main, Wien, Zürich 1968
Frederik Hetmann, Rosa L. - Die Geschichte der Rosa Luxemburg und ihrer Zeit, Fischer TB Verlag 2132, Frankfurt am Main 1979 - ISBN 3596221323
Max Gallo: Rosa Luxemburg. Eine Biographie. Benziger Verlag, Zürich 1993 - ISBN 3545341143
Helmut Hirsch: Rosa Luxemburg in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Bildmonographien 158, Reinbek bei Hamburg 1969 - ISBN 3499501589
Donald E. Shepardson: Rosa Luxemburg and the Noble Dream, Peter Lang Publications Incorporated, New York 1996 - ISBN 082042739X
Harry Wilde: Rosa Luxemburg. Ich war, ich bin, ich werde sein. Heyne TB, München 1986 - ISBN 3453551443
Werke
R.L.: Gesammelte Werke, 5 Bände, Dietz Verlag, Berlin 1970–1975.
R.L.: Gesammelte Briefe, 6 Bände, Berlin 1982–1997.
R.L.: Politische Schriften. Herausgegeben und eingeleitet von Ossip K. Flechtheim. 3 Bände, Frankfurt am Main 1966 ff.
R.L.: Schriften zur Theorie der Spontaneität. Rowohlt Klassiker 249, Reinbek bei Hamburg 1970 - ISBN 3499452499
Ossip K. Flechtheim: Rosa Luxemburg zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 1985 - ISBN 3885068184
Frederik Hetmann (Herausgeber): Rosa Luxemburg. Ein Leben für die Freiheit - Reden, Schriften, Briefe. Fischer TB Verlag 3711
Charlotte Beradt (Herausgeber): Rosa Luxemburg im Gefängnis. Briefe und Dokumente aus den Jahren 1915-1918. Fischer TB Verlag 5659, Frankfurt am Main 1973 - ISBN 3596256593
Zeitgeschichte
Annelies Laschitza/ Günter Radczun, Rosa Luxemburg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung. Dietz-Verlag, Bonn 1971 - ISBN B0000BS92X
Klaus Gietinger: Eine Leiche im Landwehrkanal – Die Ermordung der Rosa L., Verlag 1900, Berlin 2002 – ISBN 3930278022
Heinrich Hannover, Elisabeth Hannover-Drück: Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens. Lamuv Verlag, Göttingen 1989 - ISBN 3889771866
Sebastian Haffner: Der Verrat. Verlag 1900, Berlin 2002 - ISBN 3930278006
Wolfgang Abendroth: Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung. Band 1. Distel Verlag, Heilbronn 1985 - ISBN 3923208197
Peter von Oertzen: Betriebsräte in der Novemberrevolution. Dietz Verlag, Bonn 1976, ISBN 3801210936
Film
1986 verfilmte Margarethe von Trotta mit Barbara Sukowa als Rosa Luxemburg das Leben der deutschen Revolutionärin. Der Film gewann den Bundesfilmpreis und Barbara Sukowa erhielt die Goldene Palme für ihre Darstellung auf dem Filmfestival in Cannes.
Weblinks
Kurzbiografie (http://www.dieterwunderlich.de/Rosa_Luxemburg.htm)
Längere Biographie (http://www.die-kaempferin.de)
Bibliographie (http://www.rosa-luxemburg-stiftung-sachsen.de/seiten/sti-bibliographie.html)
Rosa Luxemburgs wichtigste Schriften (http://www.mlwerke.de/lu/default.htm)
Deutsche Startseite des Marxists' Internet Archive (http://www.marxists.org/deutsch/archiv/index.htm)
Archiv Rosa Luxemburg im Marxists' Internet Archive (http://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/index.htm)
Tony Cliff (Ygael Gluckstein): Studie über Rosa Luxemburg (http://www.marxists.org/deutsch/archiv/cliff/1959/rosalux/index.htm)
Paul Levi (Herausgeber): Text "Die Russische Revolution", 1922 (http://www.glasnost.de/klassiker/luxem3.html)
Zur Novemberrevolution (http://www.novemberrevolution.de/)
riesemann - 18. Feb, 09:23
Bertha Pappenheim war eine Frauenrechtlerin und Sozialarbeiterin.
Leben
Mit 22 Jahren siedelte sie nach Frankfurt am Main über, wo sie sich sozial und politisch engagierte. Zunächst arbeitete sie in einer Armenküche und in einem Kindergarten. Als Angehörige der deutschen Frauenbewegung forderte sie die Ideale der Gleichberechtigung auch innerhalb der jüdischen Institutionen zu verwirklichen. Dabei ging es ihr besonders um die Bildung von jüdischen Frauen und ihre Gleichstellung im Berufsleben. Sie initiierte die Gründung von vielfältigen Institutionen wie Kindergärten, Erziehungsheimen und Bildungsstätten.
Bertha Pappenheim war von 1904 bis 1924 Vorsitzende im neugegründeten "Jüdischen Frauenbund", der mit zeitweise über 50.000 Mitgliedern größten karitativen jüdischen Organisation. In dieser Funktion forderte sie 1917 die "Zersplitterung innerhalb der jüdischen Wohlfahrtspflege ein Ende zu machen", was mit zur Gründung der noch heute bestehenden Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. führte.
Literarisches Schaffen
Ihre ersten Novellen veröffentlichte sie 1890 noch unter dem Pseudonym "Paul Berthold", später schrieb sie unter eigenen Namen Novelle und Bühnenstücke. Zudem übersetzte sie mehrere jiddische Schriften ins Deutsche wie die Erinnerungen der Glückel von Hameln (1910) und das Ma'assebuch (= "Frauentalmud") (1929). Der Schwerpunkt ihrer Schriften lag aber auf der Aufklärung, insbesondere über die soziale Situation jüdischer Flüchtlinge und den Mädchenhandel. 1930 publizierte sie ihr bekanntestes Buch, die "Sisyphus-Arbeit", eine Studie über Mädchenhandel und Prostitution in Osteuropa und dem Orient.
Anna O.
Bekannt geworden ist Bertha Pappenheim einer breiteren Öffentlichkeit allerdings als Patientin von Josef Breuer unter dem Decknamen "Anna O.". Ihre Fallgeschichte wird in der "Ätiologie der Hysterie" geschildert, die Breuer zusammen mit Sigmund Freud 1895 herausbrachte. Sie wird als der erste Fall geschildert, in dem es gelang die Hysterie "vollständig zu durchleuchten" und die Symptome zum Verschwinden zu bringen. Dabei hatte sie einen bedeutenden Anteil an der Heilung, da sie beständig einforderte, nicht in ihrer Erzählung unterbrochen zu werden. Ihre Aussage, dass das Aussprechen ihr helfe, ihre Seele zu entlasten, entspricht der später als "Karthasis-Theorie" bezeichneten Behandlungstechnik der Psychoanalyse. Freud bezeichnet sie deshalb als die "eigentliche Begründerin des psychoanalytischen Verfahrens". Dabei stand sie selbst der Psychoanalyse kritisch gegenüber.
Weblinks
Biographie im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon (http://www.bautz.de/bbkl/p/pappenheim_b.shtml)
Biographie auf der Webseite des jüdischen Frauenbundes (http://www.juedischerfrauenbund.org/css/pappenheim.htm)
riesemann - 18. Feb, 09:11
Nach der Promotion - Die Lehren vom politischen Sinn der Arbeiterbildung, 1933 - war sie neben ihrer Lehrertätigkeit in der Arbeiterbildung engagiert; währende der Nazizeit wurde sie aus dem Schuldienst entlassen.
riesemann - 18. Feb, 09:09
1966-1970 Mitglied im Institut für Erwachsenenbildung der Karl-Marx-Universität Leipzig
1970-1985 Mitglied im Wissenschaftsbereich Betriebspädagogik der Humboldt-Universität zu Berlin
Inhaltliche Schwerpunkte: Lernen Erwachsener, Grundlagen der Pädagogik, Erziehungstheorie
riesemann - 18. Feb, 08:58
Anna Seghers - bürgerlich Netty Radványi, gebürtig Reiling - war eine deutsche Schriftstellerin.
Leben
Anna Seghers war das einzige Kind des Kunsthändlers Isidor Reiling und seiner Frau Hedwig (geb. Fuld); die Familie bekannte sich zum orthodoxen Judentum. Sie besuchte erst eine Privatschule, dann ein Lyzeum (Oberschule für Mädchen). Im Ersten Weltkrieg leistete sie Kriegshilfsdienste. 1920 absolvierte sie das Abitur. Anschließend studierte sie in Köln und Heidelberg Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie. 1924 promovierte sie an der Universität Heidelberg mit einer Dissertation über Jude und Judentum im Werk Rembrandts. 1925 heiratete sie den ungarischen Soziologen László Radványi. Das Ehepaar zog nach Berlin, wo 1926 der Sohn Peter geboren wurde. Eine ihrer ersten Veröffentlichungen, die Erzählung "Grubetsch", erschien 1927 unter dem Künstlernamen Seghers (ohne Vornamen), worauf Kritiker einen Mann als Autor vermuteten. Das Pseudonym "Seghers" entlieh sie dem von ihr geschätzten niederländischen Radierer und Maler Hercules Segers (der Name wurde gelegentlich auch "Seghers" geschrieben).
1928 wurde die Tochter Ruth geboren. In diesem Jahr erschien auch Seghers erstes Buch "Aufstand der Fischer von St. Barbara" unter dem Pseudonym Anna Seghers. Für ihren Erstling wurde ihr, auf Vorschlag von Hans Henny Jahnn noch im selben Jahr der Kleist-Preis verliehen. Ebenfalls 1928 trat sie der KPD bei, und im folgenden Jahr war sie Gründungsmitglied des "Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller". 1930 reiste sie erstmals in die Sowjetunion. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Anna Seghers kurzzeitig von der Gestapo verhaftet; wenig später konnte sie in die Schweiz fliehen, von wo aus sie sich nach Paris begab.
Im Exil arbeitete sie an Zeitschriften deutscher Emigranten mit; unter anderem wurde sie Mitglied der Redaktion der Neuen Deutschen Blätter. 1935 war sie eine der Gründerinnen des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller in Paris. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem Einmarsch deutscher Truppen in Paris wurde Seghers Mann in Südfrankreich im Lager Le Vernet interniert. Anna Seghers gelang mit ihren Kindern die Flucht aus dem besetzten Paris in den von Henri Philippe Pétain regierten Teil Südfrankreichs. Dort bemühte sie sich von Marseille aus um die Freilassung ihres Mannes sowie um Möglichkeiten zur Ausreise. Diese Zeit bildet den Hintergrund des Romans Transit (erschienen 1944).
Im März 1941 gelang es Anna Seghers mit ihrer Familie von Marseille aus über Martinique, New York, Veracruz nach Mexiko-Stadt auszuwandern. Ihr Mann, der sich inzwischen mit deutschem Namen Johann-Lorenz Schmidt nannte, fand dort Anstellung, erst an der Arbeiter-Universität, später auch an der Nationaluniversität. Anna Seghers gründete den antifaschistischen Heinrich-Heine-Klub dessen Präsidentin sie wurde. Gemeinsam mit Ludwig Renn rief sie die Bewegung Freies Deutschland ins Leben und gab deren gleichnamige Zeitschrift heraus. 1942 erschien ihr wahrscheinlich berühmtester Roman Das siebte Kreuz in einer englischen Ausgabe in den USA und auf deutsch in Mexiko. Im Juni 1943 erlitt Anna Seghers bei einem Verkehrsunfall schwere Verletzungen, die einen langen Krankenhausaufenthalt notwendig machten. 1944 verfilmte Fred Zinnemann Das siebte Kreuz - der Erfolg von Buch und Film machten Anna Seghers weltberühmt.
1947 verließ Seghers Mexiko und kehrte nach Berlin zurück, wo sie anfangs als Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands in West-Berlin lebte. Ebenfalls in diesem Jahr wurde ihr der Büchnerpreis verliehen. 1950 zog sie nach Ost-Berlin. Sie wurde Mitglied des Weltfriedensrates und zum Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste berufen. 1951 erhielt sie den Nationalpreis der DDR und unternahm eine Reise nach China. 1952 wurde sie Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR (bis 1978). 1955 zogen Anna Seghers und ihr Mann in die Volkswohlstraße 81 (heute Anna-Seghers-Straße), in Berlin-Adlershof, wo sie bis zu ihrem Tod wohnen bleiben sollten. Heute befindet sich in der Wohnung die Anna-Seghers-Gedenkstätte, ein Museum zu Leben und Werk der Autorin.
Als 1957 Walter Janka, dem Leiter des Aufbau-Verlages (wo auch Seghers Bücher erscheinen), wegen angeblicher 'konterrevolutionärer Verschwörung' der Prozess gemacht wurde, organisierte sie dagegen eine Resolution Berliner Schriftsteller und intervenierte - erfolglos - bei Walter Ulbricht. 1961 reiste sie nach Brasilien. 1975 wurde ihr der Kulturpreis des Weltfriedensrates verliehen sowie die Ehrenbürgerschaft von (Ost-)Berlin. 1978 trat sie als Präsidentin des Schriftstellerverbandes zurück und wurde dessen Ehrenpräsidentin. Im selben Jahr starb ihr Mann. 1981 wurde Anna Seghers auch die Ehrenbürgerwürde ihrer Geburtstadt Mainz verliehen. Sie starb am 1. Juni 1983 und wurde, nach einem Staatsakt in der Akademie der Künste, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt.
Werke
Die frühen Werke Anna Seghers können der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden. In der Exilliteratur spielte sie nicht nur als Organisatorin eine wichtige Rolle, sondern schrieb mit Transit und Das siebte Kreuz auch zwei der literarisch bedeutendsten Romane dieser Zeit. Ihr späteres Werk wurde, vor allem im Westen, lange häufig allzu schematisch dem Sozialistischen Realismus zugeordnet. Zwar zeigt es in der Tat hin und wieder Schwächen, die durch ihre offizielle Funktion (als Präsidentin des Schriftstellerverbandes) vielleicht mitbedingt sind. Dennoch behielten gerade viele ihre Erzählungen bis ins hohe Alter eine Frische, die nicht zuletzt daher rührt, dass sie immer wieder Stoffe aus der Renaissance, aus Ostasien, der Karibik oder Mexiko aufgriff, die sie sowohl einfühlsam, kenntnisreich, wie auch mit großer Erfindungs- und Gestaltungsgabe - jenseits aller Klischees - literarisch großartig zu erzählen verstand.
1928 - Aufstand der Fischer von St. Barbara
1930 - Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen
1932 - Die Gefährten
1933 - Der Kopflohn
1935 - Der Weg durch den Februar
1937 - Die Rettung
1940 - Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok. Sagen von Artemis
1942 - Das siebte Kreuz
1943 - Der Ausflug der toten Mädchen
1944 - Transit
1948 - Sowjetmenschen. Lebensbeschreibungen nach ihren Berichten
1949 - Die Toten bleiben jung
1949 - Die Hochzeit von Haiti
1950 - Die Linie
1951 - Crisanta
1951 - Die Kinder
1952 - Der Mann und sein Name
1953 - Der Bienenstock
1958 - Brot und Salz
1959 - Die Entscheidung
1961 - Das Licht auf dem Galgen
1963 - Über Tolstoi. Über Dostojewski
1965 - Die Kraft der Schwachen
1967 - Das wirkliche Blau. Eine Geschichte aus Mexiko
1968 - Das Vertrauen
1969 - Glauben an Irdisches
1970 - Briefe an Leser
1970 - Über Kunstwerk und Wirklichkeit
1971 - Überfahrt. Eine Liebesgeschichte
1977 - Steinzeit. Wiederbegegnung
1980 - Drei Frauen aus Haiti
1990 - Der gerechte Richter (entstanden 1957, aber seinerzeit aus politischen Gründen nicht veröffentlicht)
Literatur über Anne Seghers
Birgit Schmidt : Wenn die Partei das Volk entdeckt. Anna Seghers, Bodo Uhse, Ludwig Renn u.a. Ein kritischer Beitrag zur Volksfrontideologie und ihrer Literatur, Münster, ISBN 3-89771-412-4
Weblinks
www.anna-seghers.de -- mit Bildern (http://www.anna-seghers.de/)
Linksammlung (http://www.ub.fu-berlin.de/internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren/multi_pqrs/seghers.html)
riesemann - 18. Feb, 08:53
Anna Siemsen war eine Pädagogin und Politikerin.
Leben
Anna Siemsen studierte Germanistik, Philosophie und Latein in München, Münster und Bonn. Im Jahr 1909 promovierte sie zum Dr. phil.; 1910 legte sie das Staatsexamen für den Unterricht an höheren Schulen ab. Es folgte in ihrer pädagogischen Ausbildung 1912 die Ergänzungsprüfung im Fach Evangelische Religion an der Universität Göttingen.
In den Jahren 1920/1921 war sie Beigeordnete für das Fach- und Berufsschulwesen in Düsseldorf, wechselte dann für die Zeit von 1921 bis 1923 als Oberschulrätin beim Magistrat nach Berlin. 1923 wurde ihr die Leiterung des Lyzeums in Jena übertragen. Im gleichen Jahr erhielt sie eine Honorarprofessur an der Landesuniversität Thüringen. 1932 wurde ihr diese Honorarprofessur durch den nationalsozialistischen Volksbildungsminister Waechtler entzogen. Es folgte 1933 die Emigration in die Schweiz. Dort heiratete sie 1934 Walter Vollenweider, den seinerzeitigen Sekretär der Schweizer Arbeiterjugend. Nach dem 2. Weltkrieg kehrte Anna Siemsen 1946 nach Deutschland zurück und übernahm 1947 die Leitung eines Sonderlehrgangs zur Ausbildung von Volksschullehrern. Von 1947 bis 1949 hatte sie einen Lehrauftrag für neuere Literatur an der Universität Hamburg inne. In den Folgejahren von 1949 bis 1951 lehrte sie am Pädagogischen Institut der Universität Hamburg.
Politisches Leben
Anna Siemsen war von 1919 bis 1922 Mitglied in der USPD und saß 1919/1920 als Stadtverordnete der USPD in der Düsseldorfer Stadtverordnetenversammlung. Von 1923 bis 1931 folgte die Mitgliedschaft in der SPD, für die sie von 1928 bis 1930 Reichstagsabgeordnete für den Wahlkreis Leipzig war. In den Jahren 1931 bis 1933 war Anna Siemsen Mitglied in der SAPD.
Während ihrer Emigrationszeit arbeitete Anna Siemsen von 1933 bis 1946 in der SPS mit. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland war sie von 1946 bis zu ihrem Tod im Jahr 1951 Mitglied in der SPD.
Werke
Erziehung im Gemeinschaftsgeist, Stuttgart 1921
Literarische Streifzüge durch die Entwicklung der Europäischen Gesellschaft, Jena 1925
Beruf und Erziehung, Berlin 1926
Politische Kunst und Kunstpolitik, Berlin 1927
Daheim in Europa. Unliterarische Streifzüge, Jena 1928
Menschen und Menschenkinder aus aller Welt, Jena 1929
Selbsterziehung der Jugend,Berlin 1929
Zur Jugendweihe. Der Weg zur Gemeinschaft, Leipzig o.J. (vermutl. 1930)
Religion, Kirche und Sozialismus, Berlin 1930
Parteidisziplin und sozialistische Überzeugung, Berlin 1931
Deutschland zwischen Gestern und Morgen, Jena 1932
Der Weg ins Freie, Zürich 1943
Zehn Jahre Weltkrieg, Olten 1946
Frauenleben in drei Jahrtausenden, Düsseldorf 1948
Goethe. Mensch und Kämpfer. Eine Einführung in sein Leben und eine Auswahl der Gedichte, Frankfurt 1949
Literatur zu Anna Siemsen:
August Siemsen: Anna Siemsen, Leben und Werk. Hamburg o.J. (vermutl. 1951)
Ralf Schmölders: Anna Siemsen. Diss. Bielefeld 1988
Ralf Schmölders: Anna Siemsen - sozialistische Pädagogin in der Weimarer Republik. In: Mütterlichkeit als Profession? Lebensläufe deutscher Pädagoginnen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, Band 1, hrsg.von Ilse Brehmer, Pfaffenweiler, Cebtaurus, 1990; S. 110-124
Inge Hansen-Schaberg: Anna Siemsen (1882-1951): Leben und Werk einer sozialistischen Pädagogin. In: Die Töchter der Alma mater Jenensis, neunzig Jahre Frauenstudium an der Universität von Jena, hrsg.von Gisela Horn, Hain-Verlag Rudolstadt, 1999; S.113-136
Cornelia Carstens: Für Freiheit, Wahrheit und Glück. Die Pädagogin und Politikerin Anna Siemsen (1882-1951). In: Berlinische Monatsschrift Heft 2/2001, S. 55-59
Weblinks
Portrait im Archiv der Arbeiterjugendbewegung (http://www.arbeiterjugend.de/news/anna_siemsen.html)
riesemann - 18. Feb, 08:42
1924-1933 Leiterin des Landerziehungsheims Walkemühle;
1933 Emigration
1946-1951 Leiterin der Odenwald-Schule
führende Mitarbeiterin im GERMAN EDUCATIONAL RECONSTRUCTION COMMITEE (GER)
riesemann - 18. Feb, 08:40
Clara Zetkin, geb. Eißner war eine linkssozialistische einflussreiche deutsche Politikerin und Frauenrechtlerin. Sie war bis 1917 aktiv in der SPD, dann in der USPD und deren linkem Flügel, dem Spartakusbund, danach in der KPD, für die sie von 1920 bis 1933 im Reichstag der Weimarer Republik vertreten war.
Biographie
Ab 1874 hatte die ausgebildete Lehrerin Kontakte zur Frauen- und Arbeiterbewegung.
Clara Zetkin (Banknote 10 DDR-Mark)Zetkin trat 1878 der Sozialistischen Arbeiterpartei bei. Diese Partei war 1875 aus dem Zusammenschluss des von Ferdinand Lassalle 1863 gegründeteten ADAV (Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein) und der von Wilhelm Liebknecht und August Bebel 1869 gegründeten SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) hervorgegangen und wurde 1890 umbenannt in SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands).
Wegen der von Bismarck 1878 erlassenen Sozialistengesetze, die sozialdemokratische Aktivitäten außerhalb des Reichstags bis 1890 verboten, ging sie 1882 zuerst nach Zürich, dann nach Paris ins Exil. Dort nahm sie den Namen ihres Partners, des russischen Revolutionärs Ossip Zetkin an, mit dem sie zwei Söhne hatte.
In ihrer Zeit in Paris hatte sie 1889 einen bedeutenden Anteil an der Gründung der sozialistischen Internationale (vgl. Zweite Internationale).
In der SPD gehörte sie neben anderen, jedoch zusammen mit ihrer engen Vertrauten, Freundin und Mitstreiterin Rosa Luxemburg, wortführend zum revolutionären linken Flügel der Partei und wandte sich mit ihr um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert in der Revisionismusdebatte entschieden gegen die reformorientierten Thesen Eduard Bernsteins.
Einer ihrer politischen Schwerpunkte war die Frauenpolitik, dabei unter anderem die Forderung nach Gleichberechtigung und Frauenwahlrecht. Zetkin baute die sozialdemokratische Frauenbewegung auf und war von 1891 bis 1917 Herausgeberin der SPD-Frauenzeitung "Die Gleichheit". 1907 wurde ihr die Leitung des neu gegründeten Frauensekretariats der SPD übertragen. Sie initiierte den ersten Internationalen Frauentag am 8. März 1911.
Während des 1. Weltkriegs lehnte sie mit Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und relativ wenigen anderen einflussreichen SPD-Politikern die Burgfriedenspolitik ihrer Partei, die seit dem Tode August Bebels 1913 unter der Führung Hugo Haases und des deutlich gemäßigten Friedrich Ebert stand, ab. Neben anderen Aktivitäten gegen den Krieg organisierte sie 1915 in Bern eine internationale sozialistische Antikriegs-Frauenkonferenz. Wegen ihrer Antikriegshaltung wurde Clara Zetkin während des Krieges mehrfach inhaftiert.
Nach ihrer Beteiligung an der Gründung des Spartakusbundes (1916) und der USPD, die sich aus Protest gegen die kriegsbilligende Haltung der SPD 1917 von der Mutterpartei getrennt hatte, wurde im Januar 1919 nach der Novemberrevolution die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gegründet, der auch Clara Zetkin beitrat und für die sie von 1920 bis 1933 im Reichstag der Weimarer Republik saß.
In der KPD war Zetkin bis 1924 Angehörige der Zentrale, und von 1927 bis 1929 des Zentralkomitees der Partei. Des Weiteren war sie von 1921 bis 1933 Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (Komintern bzw. Dritte Internationale), die 1919 in Moskau in Konkurrenz zur zweiten Internationale auf Initiative Lenins neu gegründet worden war.
1925 wurde Zetkin außerdem zur Vorsitzenden der Roten Hilfe Deutschlands gewählt.
Im August 1932 forderte sie als Alterspräsidentin im Deutschen Reichstag zum Kampf gegen die Nationalsozialisten auf.
Nach der Machtergreifung durch die NSDAP unter Hitler und dem Verbot und Ausschluss der KPD aus dem Reichstag in Folge des Reichstagsbrands 1933 ging sie noch einmal, das letzte Mal in ihrem Leben, diesmal in die UdSSR ins Exil. Dort starb sie wenig später am 20. Juni 1933 im Alter von fast 76 Jahren.
Clara Zetkin lebte die längste Zeit in Stuttgart-Sillenbuch und war 1899-1928 mit dem Maler Friedrich Zundel verheiratet. Sie wurde an der Moskauer Kreml-Mauer beigesetzt.
Weblinks
http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/ZetkinClara/ - Biographieseite des Deutschen Historischen Museums
http://www.marxistische-bibliothek.de/_zetkin.html - Reden und Schriften von Clara Zetkin
http://www.stamokap.org/zetkin-tx.html - Schriften zur proletarischen Frauenbewegung von Clara Zetkin
http://www.sozialistische-klassiker.org/dir/zet.html - weitere Website mit Schriften Zetkins
http://www.dhm.de/lemo/html/kaiserreich/innenpolitik/frauen/ - dhm.de zur deutschen Frauenbewegung im Kaiserreich incl. Bedeutung Zetkins in der proletarischen Frauenbewegung
riesemann - 18. Feb, 08:34